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Danzig zur Sprache bringen

Stefan Chwin und die Geschichte seiner Stadt

Von Joanna Bednarska-Kociołek

Stefan Chwin – ein namhafter polnischer Schriftsteller und Professor für Literaturwissenschaft an der Danziger Universität – ist Autor mehrerer Romane, deren Handlung meist in Danzig bzw. in Gdańsk spielt. Auch in Deutschland hat er eine größere Leserschaft gefunden, die sich seinen in Übersetzung vorliegenden Texten (z. B. „Tod in Danzig“, „Die Gouvernante“ und „Der goldene Pelikan“) zugewandt hat.

Chwin wurde 1949 in Gdańsk geboren. Sein Vater ist nach dem Zweiten Weltkrieg aus Wilna und seine Mutter aus dem bombar­dierten Warschau dorthin geflüchtet. In Gdańsk waren sie fremd. Stefan erkundet als Kind alleine die Stadt seiner Geburt, die für seine Eltern nie Heimat wurde. In ähnlicher Weise suchen auch die Erzähler in seinen Werken nach ihrer Identität. Die Entde­ckung der Stadt wird zu einem zentralen Sujet dieser Prosa: Ebenso wie Chwin selbst stammen auch seine Erzähler aus einer Stadt, die sie Schritt für Schritt selbst erschließen und erfahren. Der Schrift­steller gehört somit neben dem um 22 Jahre älteren Günter Grass und dem um acht Jahr jüngeren Paweł Huelle zu den bedeu­tenden Schöpfern des litera­ri­schen Mythos von Danzig/Gdańsk. Dabei schafft er seine eigene Version der Stadt­ge­schichte, indem er auf die Geschichten und Legenden der Stadt sowie auf frühere litera­rische Texte (z. B. die von Günter Grass) anspielt und sich in erster Linie auf die Metamor­phosen der Stadt konzen­triert. So beschreibt er mit beson­derer Inten­sität die Welt, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg von einer deutschen in eine polnische verwandelt. Deshalb sind Danzig und Gdańsk in Chwins Prosa notwen­di­ger­weise zwei unter­schied­liche Städte, zwischen denen aller­dings eine lineare Verbindung besteht. Die Faszi­nation des Autors an der Metamor­phose prägt die meisten seiner Werke, z. B. die Romane „Kurze Geschichte eines gewissen Scherzes“ (1991), „Tod in Danzig“ (1995, dt. 1997) oder „Der goldene Pelikan“ (2003, dt. 2005) wie auch sein „Deutsches Tagebuch“ (2004, dt. 2015) und seine litera­ri­schen Feuil­letons „Stätten des Erinnerns. Gedächt­nis­bilder aus Mittel­europa“, die 2005 mit dem Unter­titel „Dresdner Poetik­vor­le­sungen“ auf Deutsch erschienen sind.

Zwei Städte – zwei Welten

Eine erste Beschäf­tigung mit dem Sujet der Heimat­stadt bietet der Roman „Kurze Geschichte eines gewissen Scherzes“, der bislang nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Hier ist das Bild der Stadt realis­tisch gehalten. Der Erzähler ist im Nachkriegs­polen aufge­wachsen und beobachtet, wie eine ganze (deutsche) Stadt starb, um einer anderen (polni­schen) Platz zu machen. Die meisten Spuren sterbender oder bereits toter Vergan­genheit waren diskret, wie kleine Patro­nen­spuren, die man erst dann bemerken konnte, wenn man die Tür oder den Fußboden sehr genau betrachtete. Zu den von den Deutschen hinter­las­senen Spuren zählen Friedhöfe, Häuser, Kirchen, Schulen, die Fraktur­schrift und schließlich Gebrauchs­ge­gen­stände wie Handtücher mit einge­stickten Monogrammen oder Streuer mit den fremd klingenden Aufschriften „Salz“, „Pfeffer“ und „Zucker“. Zu bemerken waren deutliche Unter­schiede zwischen der polni­schen (damals kommu­nis­ti­schen) und der deutschen Welt. Die von Deutschen hinter­las­senen Gegen­stände waren fast immer ordentlich, massiv, stabil und praktisch, und zugleich sahen sie schön aus. Die polni­schen Waren wurden nach dem Kriegsende „holter­die­polter“ herge­stellt. Die polni­schen Gebrauchs­ge­gen­stände waren zu dieser Zeit meistens nicht nur unschön, sondern sie gingen sehr schnell entzwei. Deswegen konnten sie kaum als praktisch gelten. Diese Unter­schiede fielen sofort auf, auch wenn man sich bewusst war, dass es nach dem Krieg aus Mangel an Geld und Materialien unmöglich war, hochwertige Gegen­stände zu produ­zieren. Weil man von Hässlichkeit, von Ruinen und grauen Fassaden, umgeben war, beein­druckten jene soliden deutschen Sachen, die man entweder finden oder von den zurück­ge­blie­benen Deutschen kaufen konnte, in noch höherem Maße.

Ein beson­deres Symbol für die Existenz der deutschen Kultur in Gdańsk, das vom Erzähler fokus­siert wird, waren die in Fraktur geschrie­benen Inschriften. Es werden unzählige Gegen­stände, auf denen deutsche Schrift zu erkennen ist, aufgezählt:

Wasser­zähler, Hydranten, Ventile: Schwa­bacher, Fraktur, Gotik hielten sich an den Blechen, Riegeln, Rohren, Deckeln, Brücken­ge­ländern, Straßen­über­füh­rungen, Schleusen, Schloten fest, sie hingen stur im Bahnland der Schienen, Eisen­bahn­si­gnale, Wasser­türme und Eisen­bahn­weichen, gewöhnt an ihre Anwesenheit auf den Eisen­rädern der alten Lokomo­tiven und Wagen. („Kurze Geschichte eines gewissen Scherzes“, Übers.: JBK)

Die oben beschrie­benen Buchstaben sind „gut“. Es gibt aber auch die „bösen“. Als der Erzähler ein Kind war, stellte sich plötzlich heraus, dass sich im Zimmer, in dem er schlief, unter der Tapete als Makulatur Ausschnitte aus natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Zeitungen verbargen. Die Fotos und Buchstaben, die man nun sah, waren für den Jungen böse, weil sie vom Unheil erzählten – sie erweckten jedoch auch seine Neugier. Diese Buchstaben und Bilder erzählten ihm von der Stadt seiner Geburt und seiner Kindheit anders, als er dies bisher erfahren konnte. Das Kind fand in den sprechenden Wänden die letzten Augen­zeugen der Vergan­genheit. Nur mit Mühe erkannte er auf den Fotos aus dem „Danziger Vorposten“ die einzelnen Orte. Die Straßen, durch die er mehrmals spazieren gegangen war und die er sich jetzt auf den Fotos ansah, hießen seltsam: Frauen­gasse, Hunde­gasse, Karenwall. Einer­seits wollte der Erzähler, dass die Spuren der Vergan­genheit verschwinden, und anderer­seits empfand er ein unklares Gefühl, dass er sie vor dem Vergessen gerne bewahren würde:

So viele Jahre hatte ich hier also ruhig geschlafen, unter den teero­sen­gelben Tapeten mit den Pekinesen aus Königsberg, […] Gauleiter Forster […], dem Panzer­kreuzer ‚Schleswig Holstein‘ – groß, schwer wie ein stählerner Panzer­schrank – […] während die blonden Hitler­jungen in glänzenden Schaft­stiefeln durch die Hinden­bur­g­allee marschierten. […] Ich? Was fühlte ich damals? […] Angst, Ekel und Abscheu – oder eher einen merkwür­digen Wunsch, dass diese gräss­lichen Spuren von etwas, was fremd, schrecklich und feindlich war, trotzdem überleben würden. („Kurze Geschichte eines gewissen Scherzes“, Übers.: JBK)

Sein Zuhause war dem Kind plötzlich nicht mehr so vertraut wie zuvor. Irrtümlich hatte es immer geglaubt, hier sicher zu sein. Jetzt sieht es die bösen Buchstaben unter der Tapete, zugleich sind es aber doch die gleichen Buchstaben wie auf den Hydranten oder Wasser­hähnen und auch – was am meisten verwirrt – im Dom in Oliwa. Dem Kind ist klar, dass auch die Kirche von den bösen Deutschen gebaut wurde. Durch das Wieder­erkennen der Ambivalenz der vergan­genen Welt werden die Faszi­nation des Jungen von dieser Welt und das Bedürfnis nach der Dekodierung der geheim­nis­vollen Zeichen aus den früheren Zeiten unterstrichen.

Fremdheit und Identität

Im bekann­testen Roman von Stefan Chwin, „Tod in Danzig“, dessen Titel im polni­schen Original „Hanemann“ lautet, wird die Geschichte der Stadt aus der Perspektive eines Jungen erzählt, der im polni­schen Gdańsk nach dem Krieg geboren wurde. Seine Eltern stammen – ebenso wie dieje­nigen des Erzählers der „Kurzen Geschichte eines gewissen Scherzes“ sowie des Schrift­stellers selbst – nicht aus Danzig. Chwins neuer Erzähler beschreibt die Bevöl­kerung der Stadt, die nach dem Krieg sehr heterogen war, weil sie sich aus Menschen unter­schied­licher Herkunft, aus Vertrie­benen und entwur­zelten Menschen, zusam­men­setzte. Nach Gdańsk kamen nach dem Krieg Menschen polni­scher Herkunft aus Wilna, Lemberg oder Warschau sowie auch Lemken, die einem russi­ni­schen, in Galizien behei­ma­teten Volks­stamm angehören. Viele seiner Mitglieder wurden nach dem Krieg aus ihrer Heimat vertrieben bzw. ausge­siedelt. Zurück­ge­blieben sind in Gdańsk auch einige wenige Deutsche, die bisher in Danzig gelebt hatten, und viele Kaschuben, die als Autochthone ihre eigene Kultur und Sprache pflegten. Es waren Menschen, die zuvor nichts oder wenig mitein­ander gemein hatten: Die Zuwan­derer, die nach 1945 gen Westen geflohen oder vertrieben worden waren, standen noch unter dem unmit­tel­baren Eindruck des Kriegs­ge­schehens und waren deswegen aller­meist trauma­ti­siert. Das gemeinsame Schicksal verband sie. Die Zuwan­derer in Gdańsk wohnten nach der Grenz­ver­schiebung in einem fremden Land, in einer polni­schen Stadt, die noch vor kurzem deutsch war; deshalb wurden deutsche Symbole entfernt; es ging darum, die deutsche Prägung der Straßen und Gebäude so schnell wie möglich aus dem Stadtbild zu tilgen. Der Umben­nenung der Straßen­namen kam nach dem Krieg überall eine heraus­ra­gende symbo­lische Bedeutung zu, denn gerade sie sollte der Heraus­bildung einer neuen Identität dienen. Die frühere deutsche Benennung ist in vielen polni­schen Namen der Straßen und Plätze aller­dings erhalten oder erkennbar geblieben. Beispiels­weise heißt der „Bischofsberg“ nach dem Krieg „Biskupia Górka“, aus „Brösen“ wurde „Brzeźno“, aus „Ahornweg“ „Klonowa“ oder aus der „Breit­gasse“ die „ulica Szeroka“. Man hat Namen seman­tisch oder phone­tisch einfach „übersetzt“, ohne wirklich neue zu erfinden. Chwin versucht in seiner Prosa, das Phänomen des Namens­tauschs diffe­ren­ziert festzu­halten, indem er genau und konse­quent zwischen deutschen Namen in Danzig und polni­schen in Gdańsk unter­scheidet. So zeigt er im Roman „Tod in Danzig“, wie viele Straßen­namen einer­seits zwar von einem Tag auf den anderen verändert wurden (z. B. der Wechsel von der Lessing­straße zu Grottgera-Straße, vom Jäsch­ken­ta­lerweg in die Jaśkowa Dolina oder vom Karenwall in die Okopowa), der Erzähler anderer­seits aber beobachtet:

Unser Unter­richt über Mickiewicz, Kości­uszko und Gałczyński fand in neugo­ti­schen dunklen Ziegel­bauten aus der Wilhel­mi­ni­schen Ära statt – ehemals deutschen Gymnasien. Für den Sonntags­got­tes­dienst ging es zu den früheren deutschen Garni­sons­kirchen, in denen 1916 die Husaren des Generals von Treskow vor dem Aufbruch an die russische Front gebetet hatten. […] Die Städte von früher mit ihren fremden Namen gab es nicht mehr; aber es war von ihnen ein Netz aus Straßen, Parks, Kanälen und Trambahn­linien übrig­ge­blieben, die unsere Wege bestimmten. („Stätten des Erinnerns“, S. 15)

Dieser Textaus­schnitt verweist auf jene „,Netze‘“, die unter­schwellig weiter­wirken: Wenn sie erschlossen und proble­ma­ti­siert werden, kann es der Literatur gelingen, in ihrem Medium den Genius loci der Stadt zu erfassen.

Bei Chwin werden aber nicht nur solche histo­ri­schen Konti­nui­täten erfasst, sondern auch schroffe Brüche. Diese Zäsuren betrafen den Autor – gleichwie seine Erzähler – unmit­telbar, weil sich die Eltern kaum der Stadt­ver­gan­genheit bewusst waren und sie sich oft auch gar nicht aneignen wollten. Sie waren Zuwan­derer in Gdańsk. Die Geschichte der Stadt war für sie peinlich, und sie tabui­sierten sie. Chwin unter­streicht, dass die neuen Stadt­be­wohner, durch zwei Totali­ta­rismen gezeichnet, von sich aus eine neue, gemeinsame Identität heraus­bil­deten, ohne dass ihnen diese vom Kommu­nismus aufge­zwungen worden wäre. Indirekt trugen die Kommu­nisten aller­dings dazu bei, dass sich in Polen die Gewerk­schaft Solidarność entwi­ckelte, denn die polni­schen Staats­bürger wurden einer­seits in ihrer Freiheit einge­schränkt, anderer­seits wurde ihnen aber das Bewusstsein gegeben, dass sie ein Kollektiv seien und als Kollektiv Macht besäßen. In der Folge wollten die Menschen für sich selbst entscheiden und die gleichen Chancen wie in den westlichen Indus­trie­ge­sell­schaften haben.Deswegen war es, Chwin zufolge, kein Zufall, dass die Gewerk­schafts­be­wegung gerade in Gdańsk entstand: Hier konnten sich die hybri­di­sierten, entfrem­deten Menschen­gruppen am ehesten eine neue gemeinsame Identität als Kollektiv aufbauen. Die Arbei­ter­ver­ei­nigung half ihnen, ihre eigene Identität und Kraft wieder­zu­finden. In diesem Zusam­menhang geht der Autor auch auf die Benennung der „Freien Stadt Danzig“ aus der Zwischen­kriegszeit ein und assoziiert damit eine mittelbar fortwir­kende Idee einer „Stadt Freier Menschen“, für die die Solidarność letztlich gekämpft habe. Durch die Gewerk­schafts­be­wegung konnte man sich in Gdańsk endlich zu Hause fühlen, weil man sich dieses Zuhause ganz neu und gemeinsam erbaute.

Die Stadt als Palimpsest

Immer wieder stellt Chwin die Kindheit seiner Erzähler als Prozess der Entde­ckung von Zeit-Schichten dar, die im Sinne eines Danziger Palim­psests überein­ander gelagert sind: verschiedene Kulturen, verschiedene Konfes­sionen und gegen­sätz­liche ästhe­tische Vorstel­lungen „überschreiben“ einander, sind partiell aber weiterhin „lesbar“. In der „Kurzen Geschichte eines gewissen Scherzes“ schreibt er über seine Heimatstadt:

Ich bin geboren nach dem großen Krieg in einer zerstörten Stadt an der Bucht eines kalten Meeres, auf halbem Wege zwischen Moskau und dem Ärmel­kanal, in einem alten Haus mit einem steilen, mit roten Dachziegeln gedeckten Dach, in der mit alten Linden bepflanzten Lützow­straße, die sich im Januar des Jahres 1945 von einem Tag auf den anderen in die Poznańska-Straße verwan­delte. (Übers. JBK)

In den 1950er Jahren lebte Chwin wie auch seine Erzähler in einer Stadt, die einem Friedhof ähnelte. Die neuen Fassaden waren größten­teils noch nicht errichtet worden und der künftige Schrift­steller hatte die einzig­artige Möglichkeit, Ruinen der früheren Zeiten, vom Altertum über das Mittel­alter und den Barock bis zur Freien Stadt Danzig, zu sehen.

Diese Vielschich­tigkeit der Ruinen wird detail­liert in den litera­ri­schen Aufsätzen thema­ti­siert. Die Spuren erweckten die Fantasie des neugie­rigen und scharf­sin­nigen Kindes: „Man kann in den Schutt aus Ziegeln, Holz und Metall immer tiefer eindringen und ältere Schichten erreichen. Die Zeit hatte hier die Reihen­folge vergessen, in der die Dinge gewöhnlich vergehen.“ („Stätten des Erinnerns“, S.17f.) Diese Beschreibung erinnert an die Freudsche These vom „Wunder­block“. Sigmund Freud entwi­ckelt in seiner „Notiz über den Wunder­block“ ein Modell des mensch­lichen Gedächt­nisses: Das Kinder­spielzeug – der Wunder­block  –, das das immer neue Beschreiben und Löschen von Zeichen auf einer Wachs­platte ermög­licht, wobei Spuren aller früheren Einschrei­bungen als unsichtbare Vertie­fungen erhalten bleiben, soll so ähnlich wie das mensch­liche Gedächtnis funktio­nieren. Dabei verdeut­licht Freud zugleich die Differenz zwischen dem Kurzzeit­ge­dächtnis (dem Deckblatt) und dem Langzeit­ge­dächtnis (der Wachs­schicht). In vergleich­barer Weise konzi­piert Chwin das Erinne­rungs­system der Stadt:

Unter dem Straßen­pflaster der wirklichen Stadt eröffnete sich eine andere, die nicht mehr vorhanden war. Das Bild der Stadt als Palim­psest hat auch mein Verständnis von der Sprache der Literatur geprägt. Sehr früh merkte ich, dass das Wort verschiedene Schichten hat – so wie auch mein nieder­ge­branntes Troja des Nordens in verschie­denen Erdschichten erhalten war. („Stätten des Erinnerns“, S. 33)

Der Autor denkt darüber nach, welche der vielen Erschei­nungs­formen von Danzig, deren Trümmer er als Kind betrachtete, ­authen­tisch sei, und kommt zu der Schluss­fol­gerung, dass sie erst alle gemeinsam den Genius loci heraus­bil­deten. In einer Stadt, die dem Betrachter so viele Gesichter auf einmal offen­barte, konnte kein einzelnes Gesicht, mussten vielmehr alle Gesichter „wahr“ sein. Nur zusammen konnten sie ein Antlitz ergeben, das sich der „Wahrheit“ annäherte. Wenn die alte Fassade der Stadt durch eine neue Vorder­front ersetzt wurde, war dies für Chwin somit gleich­be­deutend mit einem Vorgang, bei dem ein Text über die bishe­rigen Schichten auf ein Pergament geschrieben wird.

Das Ende der Vielschichtigkeit?

Im Roman „Der goldene Pelikan“ wird die Metamor­phose von einer deutschen in eine polnische Stadt ebenfalls thema­ti­siert. Der Protagonist, Jakub, ist Professor der Rechts­wis­sen­schaften. Er kam kurz nach dem Krieg in Gdańsk auf die Welt und ist ein angese­hener Bürger der Stadt – als sich plötzlich infolge einer fatalen Kette von Zufällen sein Leben grund­sätzlich verändert. Er verliert seine Frau, seine Arbeit, seine Wohnung und wird letztlich obdachlos. Aus dieser Perspektive nimmt er die Stadt nun ganz anders wahr und besucht Orte, von denen er nie ahnte, dass sie existierten. In seiner Zeit als Professor erinnert er sich noch an seine Kindheit, kurz nach dem Krieg. Damals begrüßten ihn „auf dem linden­be­stan­denen Platz vor der Kirche auf der bloßen Erde sitzende, traurige Reminis­zenzen des großen Krieges: in Lumpen gehüllte Rümpfe ohne Arme, beinlose Körper mit Leder­riemen an aus Brettern gezim­merte Pritschen geschnallt, lebendige entrindete Baumstümpfe“. („Der goldene Pelikan“, S. 19). Damals hatte er Angst vor diesen Menschen – und jetzt bettelt er selbst, ähnlich wie sie, um überleben zu können.

Die eigent­liche Handlung des Romans spielt am Anfang des 21. Jahrhun­derts. Zu dieser Zeit kann man keine Kriegs­opfer mehr auf den Straßen antreffen, aber die Toten, die die Vergan­genheit der Stadt symbo­li­sieren, sind, wie sich zeigt, immer noch anwesend, obgleich nicht mehr sichtbar. Bei Chwin werden sie gezeigt, als der obdachlose Jakub auf der Suche nach einer Übernach­tungs­mög­lichkeit in den Kanal hinab­steigt. Im Tunnel stößt er zunächst auf Abfall aus verschie­denen Epochen, der ihm die vergessene Geschichte der Stadt erzählt. Hier findet er leere Shampoo­fla­schen, Ansichts­karten, kaiser­liche Diplome mit dem deutschen Aufdruck „Technische Hochschule“, vergilbte Flugblätter vom Dezember 1970, die zum Streik in der Werft aufrufen, von Albert Forster unter­schriebene Bekannt­ma­chungen, Formulare eines Geschäfts­plans für das Jahr 2000. Alle diese Zeichen der Vergan­genheit wurden zum Müll, sind keine Zeugen der früheren Geschichte mehr. Der Müll in den Danziger Abwas­ser­ka­nälen ist natur­gemäß nicht nach einer ursprüng­lichen Bedeutung sortiert und bleibt gänzlich dem Vergessen anheim­ge­geben. Letztlich stößt Jakub dann auf einen Luftschutz­bunker, in dem er unberührte Leichen von Zivilisten entdeckt:

Die schwei­genden Menschen, die den Saal erfüllten, bewachten in absoluter Stille das schwarze Wasser. […] Sie waren zu einer langen Reise bereit, schienen nur auf ein Zeichen zu warten. Manche hatten Katzen und Hunde im Arm, einen Käfig mit einem schmut­zig­gelben toten Kanari­en­vogel oder leere Panzer von Hausschild­kröten. Andere hielten ein Päckchen Briefe, mit einem Band zusam­men­ge­halten, vermo­derte Ausweise, alte Schreib­ma­schinen, silbernes Besteck, Medizin­köf­ferchen. […]Wenn er sich näherte, ließen ihn alte Frauen mit auf der Stirn gebun­denen Kopftü­chern passieren und nickten schwer­fällig mit dem Kopf, als ob sie ihr Einver­ständnis gäben. („Der goldene Pelikan“, S. 236)

Diese Passage, in der Danzig/Gdańsk als Stadt der Friedhöfe versinn­bild­licht wird, gewinnt eine phantastisch-imaginäre Dimension. Dabei wird aber nicht mehr die Vergan­genheit beschworen; vielmehr hat die Geschichte, für die die ehrwür­digen Friedhöfe standen, in der Gegenwart keine Aktua­lität mehr. Schlichtweg alles, auch die Leichen der Kriegs­opfer, ist in Verges­senheit geraten. Soll das heißen, dass der Mythos Danzig bereits unter­ge­gangen ist und sich kaum noch jemand an ihn erinnert? Diese Diagnose scheint Chwin in seinem Roman tatsächlich zu stellen:

Die Stadt, in der Jakub auf die Welt kam, war verwüstet und leer. […] Die früheren Bewohner der Stadt waren nicht mehr da. Die einen waren im Feuer umgekommen, andere mit Schiffen übers Meer geflohen, die restlichen hatte man hinter die sieben Berge abtrans­por­tiert. Sie hinter­ließen eitle, phanta­sie­volle Schilder mit gotischen Buchstaben über den Türen zerstörter Restau­rants und leere Wohnungen mit kalten Laken auf Eisen­betten, in denen man noch einige Wochen nach der Einnahme der Stadt durch die Soldaten der großen Armee einen weichen, weiß schim­mernden Kopf oder einen im Schlaf zusam­men­ge­kau­erten Leib sehen konnte. („Der goldene Pelikan“, S. 5f.)

In diesem Roman wird mithin eine pessi­mis­tische These formu­liert. Die vergangene Welt ist für den durch­schnitt­lichen Menschen nicht mehr zu sehen. Man muss in den Kanal – gleichsam in den Hades, die Unterwelt – hinab­steigen, um sie noch sehen zu können. Die mythische Stadt, die der Schrift­steller selbst schuf, gibt es nicht mehr. Sie ähnelt einem nicht mehr existie­renden Friedhof oder einem Mülleimer, in dem alles inkohärent ist. Die Materie, auf die Jakub in den Kanälen stößt, ist wertlos, abstoßend, bedeu­tungslos und bleibt vergessen. Jakub als Obdach­loser verliert sogar die Fähigkeit zu sprechen. Es ist kein Zufall, dass er gerade, nachdem er aus dem Abgrund der Kanäle wieder ans Tages­licht kommt, stumm wird: Er ist nicht imstande zu beschreiben, was er sah. Noch bevor er sich in die Unterwelt begibt, hat Jakub die These des Philo­sophen Ludwig Wittgen­stein bestätigt, nach der die Grenzen unserer Sprache die Grenzen unserer Welt seien. Konse­quenter Weise werden die Namen der Gegen­stände, die Jakub in den Kanälen findet, nun von niemandem mehr ausge­sprochen, d. h. sie haben keine Namen mehr, obwohl sie einst von jemandem benannt worden waren. Die Dinge haben, anders als im „Tod in Danzig“, keine magische Bedeutung mehr. Sie sind Müll geworden.

Ähnlich wie Günter Grass oder Paweł Huelle zeigt Stefan Chwin auf verschiedene Weisen, dass die Geschichte Danzigs als Kontinuum zu verstehen ist, auch wenn sie von tiefgrei­fenden Zäsuren (wie dem Zweiten Weltkrieg) zerklüftet wurde. Auch für ihn ist es unmöglich, sich von der Vergan­genheit abzuspalten. Dabei geht es keines­falls nur um eine persönlich-individuelle Erinnerung, sondern vielmehr um das kultu­relle Gedächtnis der Polen und der Deutschen. Dies ist letztlich der Flucht­punkt der Geschichten, in denen Kinder eine Privat-Archäologie auf Danziger Dachböden, in Kellern und unter­ir­di­schen Gängen betreiben, sich auf deutsche Spuren begeben – und dem Fremden ohne Hass gegenübertreten.


Die Zitate aus „Tod in Danzig“ und „Der goldene Pelikan“ folgen der kon­genialen Übersetzung von Renate Schmidgall.


Die heutigen Vorstel­lungen von der kultu­rellen Vielschich­tigkeit und mythi­schen Dimension der Stadt Danzig verdanken sich in erheb­lichem Maße dem dichte­ri­schen Werk von Stefan Chwin. Dieser Schrift­steller hat am 11. April sein 70. Lebensjahr vollendet, und zu diesem Jubiläum wollen wir ihm ebenso gratu­lieren, wie wir vor gut eineinhalb Jahren seinen jüngeren Kollegen Paweł Huelle aus Anlass von dessen 60. Geburtstag gewürdigt haben. Und da Dr. Joanna Bednarska-Kociołek, die sich als Litera­tur­wis­sen­schaft­lerin intensiv mit dem Erinne­rungsort Danzig/Gdańsk ausein­an­der­ge­setzt hat, unseren Leserinnen und Lesern damals bereits Paweł Huelles Danzig-Bild überzeugend erläutet hat (DW 9/2017), sind wir ihr sehr dankbar dafür, dass sie sich nun bereit­erklärt hat, uns auch eine Einführung in die poetisch-literarische Welt von Stefan Chwin zu geben. 

DW