Westpreußen kennenlernen in Westfalen
Von Alexander Kleinschrodt
Vor gut vier Jahren, Anfang Dezember 2014, öffnete das Westpreußische Landesmuseum am neuen Standort Warendorf seine Pforten. Nach dieser Zeit lassen sich nun bereits Entwicklungstendenzen und Chancen solch eines Hauses erkennen und abschätzen. Dabei stellt sich insbesondere die Frage, was ein „Westpreußisches“ Landesmuseum Besucherinnen und Besuchern auf Dauer bieten kann, denen in aller Regel der Name der ehemaligen preußischen Provinz „Westpreußen“ bislang noch kein Begriff ist ?
Besuchern im Westfälischen stellt sich Warendorf als „Die Stadt des Pferdes“ vor. Hier, knapp 30 Kilometer östlich von Münster, befindet sich das Nordrhein-Westfälische Landgestüt. Für die Pferdezucht und den Reitsport ist die Kreisstadt ein wichtiges Zentrum, und ihr Name hat, wie man hört, in den entsprechenden Kreisen auch international einen guten Klang. Die Stadt selbst hat eine überschaubare Größe und ist sehr sehenswert. Auf dem schönen Marktplatz, der von der Laurentiuskirche überragt wird und fast ein wenig südländisch wirkt, hält man sich nicht nur im Sommer gerne auf. Auch im Winter, wenn hier das beliebte „Warendorfer Weihnachtswäldchen“ stattfindet, hat er seinen Reiz. Entlang der gewundenen, manchmal sehr engen Gassen stehen rund 600 denkmalgeschützte Häuser. Zahlreiche inhabergeführte Geschäfte finden sich im alten Stadtkern und auch einige gute Restaurants.
Im ehemaligen Franziskanerkloster am Ostrand des alten Stadtgebietes befindet sich das „Westpreußische Landesmuseum“. Seinem Selbstverständnis nach ist es in Deutschland die zentrale Einrichtung zur Erforschung und Vermittlung von Geschichte und Kultur des historischen Westpreußen. Um diese Aufgabe erfüllen zu können, wird es von verschiedenen öffentlichen Förderern unterstützt, vor allem von der Bundesregierung, die dazu einen seit der Nachkriegszeit gesetzlich festgeschriebenen Auftrag hat : „Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge und Förderung der wissenschaftlichen Forschung“, so steht es im Bundesvertriebenengesetz.
Das Museum wurde 1975 gegründet, zunächst befand es sich in Münster-Wolbeck. Anfangs war das Haus, so wie andere Museen des ehemaligen „Deutschen Ostens“, ein wichtiger Ort der Selbstvergewisserung für jene Menschen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges gezwungenermaßen ihre Heimat hatten verlassen müssen. Obwohl es immer auch darum ging, die breitere Öffentlichkeit für die Geschichte und Kultur Westpreußens zu interessieren, war mit dieser klaren Ausrichtung auf die Betroffenen auch ein Problem verbunden : Was kann solch ein Museum jemandem sagen, der keinen Bezug zu dieser Region hat, keine Familiengeschichte, die nach Westpreußen zurückführt ?
Mit der Neueröffnung des Westpreußischen Landesmuseums in Warendorf, die im Jahr 2014 erfolgte, ging daher auch eine inhaltliche Neuorientierung einher. Das Museum zeigt Westpreußen inzwischen als eine historische Region, die von Deutschen, Polen und auch noch weiteren ethnischen Gruppen geprägt worden ist. Wie sollte es in einem vereinten Europa heute auch anders sein ? Schon länger bestehen außerdem Partnerschaftsverträge mit Ausstellungshäusern in Polen. Sogar eine Zweigstelle des Westpreußischen Landesmuseums im „Bezugsgebiet“ gibt es. Sie befindet sich im Regionalmuseum der Gemeinde Krockow, ungefähr 70 Kilometer von Danzig entfernt und fast am nördlichsten Punkt Polens.
Facettenreich, doch keineswegs abgeschlossen
Doch zurück nach Westfalen. Wer durch die barocke Pforte in das aufwendig restaurierte Warendorfer Franziskanerkloster eintritt, wird im Erdgeschoss des Museums zunächst Schritt für Schritt an das Thema Westpreußen herangeführt. Der „blaue Raum“ zum Beispiel – es gibt auch noch einen roten und einen goldenen – zeigt Danzig als „stolzes Zentrum der Region“. Hier geht es um die Faszination, die von dieser Stadt bis heute ausgeht, für die polnische Öffentlichkeit genauso wie für deutsche Besucher, denen Danzig oft sehr viel bekannter ist als der Name „Westpreußen“. Die Geschichte der Stadt, ihre Aura und ihr bürgerliches Leben scheinen in unterschiedlichen Gegenständen auf, vom Gemälde bis zum Silberlöffel. Der Ausstellungsgestalter Michael Wienand und seine Firma bild-werk, die für die Einrichtung der gesamten Dauerausstellung verantwortlich waren, haben die verschiedenen Eindrücke zu einem vielfältigen Bild kohärent zusammengefügt.
Im Obergeschoss treten die Besucher in einen historischen Parcours ein. Er beginnt bei den Prußen, den Angehörigen mehrerer baltischer Volksstämme, die den Raum von der Memel bis zur Weichsel besiedelten, und kommt beim Deutschen Orden, der die Region als Territorialmacht in vieler Hinsicht dauerhaft geprägt hat, zu einem ersten Schwerpunkt. Danach geht es weiter zu den Hansestädten, zu denen nicht nur Danzig und Elbing, sondern auch die weiter von der Ostsee entfernten Städte Kulm und Thorn gehörten. Nach verschiedenen anderen Stationen, zum Beispiel mit Einblicken in die Landwirtschaft früherer Jahrhunderte oder mit Dokumenten zum religiösen Leben in der Region, führt der Weg in das konfliktreiche 20. Jahrhundert, zeigt schlaglichtartig, aber fundiert die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs in der Region und – als seine Konsequenz – Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung. In der Abteilung „neue Partnerschaften“, in der es nicht zuletzt um eine gemeinsame deutsch-polnische Auseinandersetzung mit dieser Geschichte geht, findet der Parcours ein versöhnliches Ende.
Seit dem Umzug des Westpreußischen Landesmuseums nach Warendorf hat es natürlich auch eine Reihe von Sonderausstellungen gegeben. Schon seit dem Herbst 2018 ist dort nun eine Ausstellung zu der Malerin Julie Wolfthorn zu sehen, die in Zusammenarbeit mit der Kunsthistorikerin Heike Carstensen entstanden ist. Sie hat das Leben der Malerin umfassend erforscht und wieder auf deren Werk aufmerksam gemacht. Die aus einer jüdischen Familie stammende, 1864 geborene Künstlerin – eigentlich hieß sie nur Wolf, Thorn in Westpreußen war ihre Geburtsstadt – war vor allem mit Porträts zu einiger Bekanntheit gekommen. Der Ausstellungstitel Vergessen Sie uns nicht verweist auf ihr Schicksal : Er ist einem Brief entnommen, den sie kurz vor ihrer Deportation nach Theresienstadt verfasste, wo Julie Wolfthorn 1944 zu Tode kam.
Die Mehrzahl der Ausstellungen am Westpreußischen Landesmuseum ist solchen kunsthistorischen Themen gewidmet, wobei die Spanne von den Bildwelten des Günter Grass bis zu Kunstwerken aus dem für die Region typischen Bernstein reicht. Wanderausstellungen haben das Programm der letzten Jahre ergänzt. Für die zukünftige Arbeit des Museums bleibt noch ein weites offenes Feld, zumal auch die Dauerausstellung Westpreußen keineswegs schon in allen unentbehrlichen Facetten zeigt. Musik und Literatur zum Beispiel haben bisher nur eine geringe Rolle gespielt. Themen wie die Zoppoter Waldoper, das einst als „Bayreuth des Nordens“ gerühmtes Musikfest, dessen erster Saisonstart sich 2019 zum 110. Male jährt, die Landschaften der Region als Sujets von Romanen oder die interkulturellen Verflechtungen deutscher und polnischer Dichtungen würden sich anbieten.
Auch bei den historischen Themen gäbe es noch wichtige Lücken zu füllen. Wie waren eigentlich die politischen Verhältnisse zwischen 1772 bis 1920, in jener Phase also, in der „Westpreußen“ als Provinz im Staate Preußen streng genommen überhaupt nur existierte ? In der Dauerausstellung ist dieser wichtigen Epoche bisher nur ein kleiner Raum gewidmet, die Sonderausstellungen haben diese Frage bisher ebenfalls ausgespart. Oder die Kaschuben : Die Volksgruppe aus der Küstenregion ist im Museum bislang nur durch wenige Kunsthandwerk-Stücke repräsentiert, obwohl sie inzwischen auch vom polnischen Staat mit ihrer eigenständigen Sprache und Kultur anerkannt ist und entsprechend gefördert wird. Ganz generell steht das Westpreußische Landesmuseum vor dem Problem, den Anschluss an die Gegenwart der heute polnischen Region herzustellen : Wie kann ein Haus, das bisher ganz selbstverständlich ein historisches Museum war, zu einem modernen Regionalmuseum werden ?
Zum Wiederkommen anregen
Trotz der guten Voraussetzungen in Warendorf hat das Westpreußische Landesmuseum also keinen ganz leichten Stand. Sein aus der Sicht der breiten Öffentlichkeit sehr spezielles Thema ist dabei nur ein Aspekt. Die Museumslandschaft in Deutschland entwickelt sich dynamisch, was in vieler Hinsicht mit der sich ändernden Erwartungshaltung des Publikums zu tun hat. Natürlich spielt die Nutzung neuer Medien dabei eine zentrale Rolle, weil gerade jüngere Besucher solche Angebote heute als selbstverständlich erwarten. Einige große, per Berührung steuerbare Bildschirme gibt es inzwischen auch im Westpreußischen Landesmuseum. Doch wie werden sie am besten eingesetzt, wie kann man mit der Medientechnik bleibende Erlebnisse und individuelle Zugänge zu Kultur und Geschichte ermöglichen, die den Museumsbesuch einzigartig machen ?
Viele Museen versuchen inzwischen auch, sich nicht nur für punktuelle Bildungserlebnisse anzubieten, sie wollen Orte sein, die „mitten im Leben“ stehen und regelmäßig aufgesucht werden. Dass manche Ausstellungshäuser jetzt mit einem teilweise freien Eintritt experimentieren, ist ein Symptom dafür. Derartige gewagte Schritte machen sich manchmal dann in anderer Hinsicht wieder bezahlt. Was auch immer getan wird, die Besucher sollen zum Wiederkommen angeregt werden – und nur die Kernaufgabe zu erfüllen, also mehr oder weniger gute Ausstellungen anzubieten, genügt dafür offensichtlich nicht mehr.
Chancen, mit interessierten Menschen in Kontakt zu treten, gibt es heute viele. Eine auf mehreren Standbeinen aufbauende Öffentlichkeitsarbeit, die auch die vielfältigen Möglichkeiten der sozialen Medien wie Facebook und Twitter planvoll nutzt, kann dafür die Grundlagen bilden. Doch es geht nicht nur um die „Verpackung“. Auch vor Ort können neue Angebote geschaffen werden, die auf ein Museum neugierig machen und einen erneuten Besuch attraktiv werden lassen. Museen verfügen inzwischen über einen ganzen Katalog von erprobten Veranstaltungsformaten, aus denen sich ein abwechslungsreiches Programm zusammenstellen lässt : Dazu gehören Gesprächsrunden und persönliche Begegnungen, Einblicke in das Depot, Thementage, Kinoabende und nicht zuletzt Führungen mit aktuellen Bezügen, die auch einmal humorvoll sein dürfen – der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt. Bisher hat das Westpreußische Landesmuseum neben Veranstaltungen für Schulklassen hauptsächlich konventionelle Vorträge angeboten. Auch sie haben natürlich ihre Berechtigung, doch darüber hinaus lässt sich noch mit vielen weiteren Vermittlungsformen experimentieren.
Wenn es darum geht, sich im Gedächtnis der Öffentlichkeit zu verankern, verfügt das Warendorfer Museum mit dem Standort im alten Franziskanerkloster eigentlich über ein besonderes Plus. Das Gebäude war in der Stadt immer ein wichtiger Ort und lohnt schon für sich genommen einen Besuch. In der Dauerausstellung existiert – etwas versteckt hinter einer Glastür – zwar eine Schauwand zur Geschichte des Klosters, doch ansonsten hat das Westpreußische Landesmuseum sein besonderes architektonisches Gehäuse noch kaum zum Thema werden lassen. Noch immer fehlt im Museum leider auch ein Aufenthaltsbereich mit ein paar einfachen Möglichkeiten zur Stärkung und Erfrischung, was den Aufenthalt sicher noch angenehmer machen würde. Der Vorplatz ist seit der Neueröffnung in Warendorf ein Durchgangsraum geblieben, Bänke suchen Besucher hier vergeblich und wer nicht sowieso schon weiß, was sich in dem Gebäude befindet, dem entgeht womöglich auch der Schriftzug neben dem Portal. Ein großes Logo des Museums ist hier nirgends zu sehen.
So schön das Klostergebäude ist, es bringt allerdings auch Probleme mit sich : Bei der gegenwärtigen Raumaufteilung bleibt der Platz für Sonderausstellungen begrenzt, für sie stehen nur ein etwas größerer Saal und von Fall zu Fall noch ein Flügel des Klosterkreuzgangs zur Verfügung. Es gilt also, den Eindruck zu entkräften, dass der bei weitem größte Teil des Museums stets gleich bleibt. Selbst dieses Problem wird aber letztlich lösbar sein. Wenn das Museum die aktuellen Herausforderungen annimmt, wird es zukünftig somit viele neue Gründe geben, um nach Warendorf zu kommen.