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Ein verborgener Schatz

Das Schicksal der Paramente aus der St. Marienkirche zu Danzig

Von Hans-Jürgen Kämpfert

In der Danziger Oberpfarrkirche war bis ins 16. Jahrhundert hinein eine große Sammlung von Paramenten – vor allem von Priestergewändern, aber auch Altarbekleidungen oder Silbergeräten – entstanden. Späterhin wurden diese kostbaren Stücke Träger einer komplizierten Wirkungs­geschichte, die von Rekonstruktionen, Verlusten und Konjunkturen der Wert­schätzung bestimmt wird.

Die Oberpfarr­kirche St. Marien zu Danzig, deren Grund­stein im Jahre 1343 gelegt worden war, besaß zu Beginn des 16. Jahrhun­derts einen derart reich­hal­tigen und kostbaren Paramenten-Schatz wie kaum eine andere Kirche in Deutschland. Das mag darin begründet sein, dass Danzig damals zu den größten und reichsten Städten Europas gehörte, mit Handels­be­zie­hungen, die über Europa hinaus­reichten. An St. Marien in Danzig – 1945 die fünft­größte Kirche der Welt – wirkten um 1500 123 Pfarrer und Kapläne am Hochaltar und an den 46 Altären der Patri­zi­er­fa­milien, Bruder­schaften und Zünfte. Zu deren litur­gi­schem Altar­dienst gehörten die Paramente: Pries­ter­ge­wänder (wie Chormantel, Kasel, Dalmatika, Stola, Cingulum oder Sudarium), aber auch Altar­be­klei­dungen und Silber­geräte. Durch die Kreuzzüge und die weitrei­chenden Danziger wirtschaft­lichen und politi­schen Verbin­dungen gelangten wertvollste Gewebe, Brokate und Seiden­stoffe aus dem Vorderen Orient, aus Venedig und Lucca, auch Sticke­reien aus Deutschland und England nach Danzig, wo sie – meist von den Patri­ziern gestiftet – für die Verwendung im Gottes­dienst herge­richtet und geweiht wurden.

Als Danzig im Jahre 1557 nach langen Bemühungen die Religi­ons­freiheit zur Ausübung der evange­li­schen Religion erreicht hatte, wurden die für die römische Messe nötigen Gewänder und Silber­geräte immer weniger verwendet (obwohl zunächst beide Konfes­sionen die Kirche parallel benutzten) und mit der Zeit überflüssig. Die Oberpfarr­kirche St. Marien zu Danzig war zur größten evange­li­schen Kirche der Welt geworden. Um die wertvollen Stücke vor Dieben und Plünde­rungen, vor allem während der Glaubens­kämpfe und kriege­ri­schen Ausein­an­der­set­zungen, zu schützen, haben weitsichtige Gemein­de­mit­glieder sie in Altären und Schränken versteckt und in Wandni­schen und Seiten­ka­pellen einge­mauert. Das Inventar der damaligen Paramente und Silber­geräte war 1552 von dem Frauen­burger Domherrn Martin Cromer auf 23 Folio­seiten erfasst worden, und 1569 hatte der Proto­notar Melchisedek Laubendorn ausge­wählte Stücke ausführlich beschrieben. Danach gerieten sie aber über Jahrhun­derte in Vergessenheit.

Erst ab 1791 – und bis 1937 – wurden durch Zufall, bei Bauar­beiten sowie durch die zwischen 1861 und 1864 vorge­nommene syste­ma­tische Suche des Küsters A. Hinz die verbor­genen Schätze wieder­ent­deckt. Die Wertschätzung kann zu dieser Zeit aber nicht groß gewesen sein :  Zahlreiche der etwa 1.000 Stücke wurden an Privat­sammler verkauft, das Berliner Kunst­ge­wer­be­museum erhielt 1875 aus Danzig 250 Stücke und später noch einige weitere, auch das Germa­nische National-Museum in Nürnberg besitzt Exemplare in seiner Gewebe­sammlung, andere gingen nach Krefeld, Brandenburg, Halber­stadt, Brüssel, Wien, London und Stralsund. Der rheinische Kanonikus Franz Bock hat die Danziger Bestände zwar wissen­schaftlich bekannt gemacht, entnahm ihnen aber auch Gewänder und einzelne Teile von Geweben und Sticke­reien zur Vervoll­stän­digung seiner eigenen Sammlung. In Danzig wurde er deshalb als »Scheren-Bock« bezeichnet. Manche dieser Fragmente wurden später an das Viktoria-und-Albert-Museum nach London verkauft, wo sie noch heute zu sehen sein sollen, ein weiteres (aus einem Chormantel aus chine­si­schem Seiden­brokat aus dem 14. Jahrhundert) wird in Lübeck aufbewahrt.

Erst ein Gutachten des General­kon­ser­vators der Kunst­denk­mäler des preußi­schen Staates, Ferdinand von Quast, aus dem Jahre 1873 konnte den Ausverkauf der Paramente verhindern. Eine erste, zwei Bände umfas­sende Beschreibung hatte bereits der Küster Hinz 1870  gegeben. Im Jahre 1929 wurde dann eine Gesamt­aus­stellung der Paramente im Danziger Stadt­museum in der Fleischer­gasse gezeigt, die aber schon nicht mehr alle von Hinz erwähnten Teile enthielt. Prof. Dr. Walter Mannowsky, Direktor des Danziger Stadt­mu­seums, hat in seiner Publi­kation Der Danziger Paramen­ten­schatz. Kirch­liche Gewänder und Sticke­reien aus der Marien­kirche (5 Bde., Berlin 1931–1938) 541 Einzel­stücke erfasst. Sie waren damals der Öffent­lichkeit in der Schatz­kammer von St. Marien, in der südwest­lichsten Seiten­ka­pelle, der Barba­ra­ka­pelle, zugänglich. Ab 1937 wurden die wichtigsten Stücke im Danziger Stadt­museum gezeigt.

Als Ende 1944 die Kriegs­hand­lungen des Zweiten Weltkrieges näher an Danzig heran­rückten, machte man sich Sorgen um den Erhalt dieser einma­ligen Schätze. Der Pfarrer von St. Marien, Oberkon­sis­to­ri­alrat D. Gerhard Gülzow (1904–1980), schreibt, dass gemeinsam mit der Gemeinde und den Kirchen­äl­testen Prof. Willi Drost und Oberbaurat Erich Volmar, die auch Denkmal­pfleger waren, eine Ausla­gerung nach Thüringen und Bayern erfolgt sei. In einem Brief aus dem Jahre 1993 gibt ein Prof. Dr. Pieper, der sich »als Freund des verstor­benen Pastors Gülzow« bezeichnet, die folgende Schilderung :

Als diese Gemeinde vor der anrückenden russi­schen Armee flüchtete, hat ihr Leiter, Pastor Gülzow, den vertrau­ens­wür­digsten Familien je eines der wertvollen alten Paramente mitge­geben und einen Rest selbst mitge­nommen. Pastor Gülzow hat in der Lübecker Schwes­ter­kirche Aufnahme gefunden, er wurde Pastor an der Luther-Kirche. Von dort aus hat er Verbindung zu seinen verstreuten Gemein­de­mit­gliedern aufge­nommen und die Paramente wieder einge­sammelt. Erstaun­licher Weise sind auf dem langen Fluchtweg kaum Verluste entstanden.

Man kann wohl davon ausgehen, dass beide Wege für die Erhaltung der Paramente in dieser von größter Unsicherheit gekenn­zeich­neten Zeit einge­schlagen worden sind.

Die Paramente aus Thüringen konnten nach 1945 nicht alle nach Lübeck, dem »Zufluchtsort der Danziger Kirchen­leitung«, überführt werden. Ein großer Teil wurde von Ostberlin im Oktober 1961 dem inzwi­schen polnisch gewor­denen Danzig übergeben, so dass dort heute 183 Stücke aufbe­wahrt werden. Im Jahre 1958 gab es aus Anlass der Eröffnung des Theodor-Heuss-Baues im Germa­ni­schen National-Museum in Nürnberg eine Ausstellung von Paramenten, in deren Katalog alle 103 Stücke der Lübecker Sammlung aufge­führt und beschrieben werden.

Vom April 1964 an wurde dieser Bestand in überein­ander liegenden, mit erheb­lichem Aufwand speziell herge­rich­teten Räumen im Westwerk der Lübecker Marien­kirche ausge­stellt. Ebenfalls gezeigt wurden Altar­geräte aus Silber wie z. B. Kelche als Trink­gefäße, die aus den beiden evange­li­schen Kirchen in Thorn gerettet wurden. Pastor Helmut Brauer schließt aus den Rechnungs­bü­chern, dass etwa 7.000 Besucher im Jahr von den wunder­baren Exponaten angezogen wurden. Frau Eri­ka Sellin, die Sekre­tärin der Gemein­schaft Evange­li­scher aus Danzig-Westpreußen, war für die Beauf­sich­tigung und die Kasse zuständig. 1983 entstanden vier Farbpost­karten ausge­wählter Stücke, von denen eine noch heute im Museum erworben werden kann. – Da die Marien­ge­meinde in Danzig als Eigen­tü­merin der Sammlung nicht mehr existierte, ging sie in den Besitz der Evange­li­schen Kirche der Union (EKU) mit Sitz in Berlin über. Der örtliche Beauf­tragte der EKU in Lübeck war, als Nachfolger von Oberkon­sis­to­ri­alrat Gülzow, seit dem 1. April 1979 der Lübecker Pastor Martin Hesekiel (1912–2003), der vor dem Kriege in Danzig und Neuenburg a. d. Weichsel tätig gewesen war.

Im Jahre 1990 fanden die Paramente in der Marien­kirche keinen Raum mehr. Als in diesem Zusam­menhang disku­tiert wurde, die Gewänder wieder nach Danzig zu geben, wurde solchen Überle­gungen entschieden wider­sprochen. Noch im September 1993 schrieb z. B. der soeben erwähnte Prof. Dr. Pieper an den Vorstand der St. Marien-Gemeinde und an andere Institutionen :

Wenn man die Paramente heute von polni­scher Seite rekla­miert, dann bedeutet diese Forderung, daß die Flücht­linge nicht nur ihre Heimat und ihren Besitz aufgeben mußten, sondern nun auch noch das mühsam bewahrte Flucht­gepäck abgeben sollen. Dafür kann man keine Zustimmung erwarten.

Zum 75. Jubiläum des besonders für seine mittel­al­ter­lichen und frühneu­zeit­lichen Kunst­schätze bekannten Lübecker ­St.-Annen-­Museums wurde am Sonntag, dem 23. September 1990 unter wohlwol­lender Begleitung der Presse eine Schatz­kammer einge­richtet, in der Beleuchtung, Tempe­ratur und Luftfeuch­tigkeit den wertvollen Ausstel­lungs­stücken in den Vitrinen entspre­chend geregelt werden konnten. Hier wurden nun, wie es in ­einem Bericht heißt, der am 22. September 1990 in den Lübecker Nachrichten erschien, »die besterhal­tensten und prunk­vollsten Kostbar­keiten des aus Danzig stammenden Paramen­ten­schatzes« gezeigt, gemeinsam mit weiteren kirch­lichen Geräten aus Gold oder Silber aus dem Lübecker Bestand und »machen diesen Teil des St.-Annen-Museums zum Höhepunkt der mittel­al­ter­lichen Abteilung.« Die EKU als Eigen­tü­merin hatte zuvor einen entspre­chenden Vertrag mit der Hanse­stadt Lübeck als Eigen­tü­merin des St. Annen-Museums geschlossen. Die Sammlung wurde als eine der wertvollsten in Europa bezeichnet. Dementspre­chend groß waren die Freude und die Anerkennung der Museums­leitung und der Mitar­beiter, zumal aus dem ehemals auch reichen Schatz der Lübecker Kirchen nur wenige Paramente erhalten geblieben sind.

Die Paramenten-Kammer im St. Annen-Museum wurde aller­dings vor einigen Jahren wegen Bauar­beiten geschlossen, und die Schätze kamen ins Magazin. Sie sind der Öffent­lichkeit bis heute nicht wieder zugänglich gemacht worden. Dies ist in hohem Maße bedau­erlich, denn die Sammlung ist nicht nur ein leuch­tendes Beispiel für die Pracht und Feier­lichkeit der gottes­dienst­lichen Handlungen der damaligen Zeit und die Lebenswelt unserer Vorfahren, sondern ebenso ein Beleg für die hohe Kunst in der Weberei und Stickerei vergan­gener Jahrhun­derte ;  und nicht zuletzt steht sie für das reiche kultu­relle Erbe, das Danzig und der damalige deutsche Nordosten hinter­lassen haben. 

Hans-Jürgen Kämpfert – OStD i. R., studierte Mathe­matik, Physik, Philo­sophie und Pädagogik, arbeitete als Lehrer an zwei Lübecker Gymnasien und in der Referen­dar­aus­bildung am Institut für Praxis und Theorie der Schule, setzt sich ehren­amtlich für die Kultur und Geschichte Danzigs und Westpreußens ein.


In einem Bericht (»Aus dem mittelalterlichen Paramentenschatz von St. Marien-Danzig – jetzt in St. Marien-Lübeck«) charakterisiert und erläutert Pastor Gerhard Gülzow die wertvollen Bestände:

Außer dem chine­si­schen Chormantel aus dem 14. Jahrhundert befinden sich in der gezeigten Ausstellung als Pracht­stücke der Sammlung einige Chormäntel und Dalma­tiken, die aus Mesopo­tamien oder Ägypten stammen. Wahrscheinlich sind diese Stoffe als Beutegut aus einem der Kreuzzüge nach dem Westen gekommen und hier zu Meßge­wändern verar­beitet worden. Auf den prunk­vollen Stücken, die reich mit Tiermo­tiven, Lotos­blüten und Blatt­or­na­menten gearbeitet sind, befinden sich breite Schrift­borten mit Votiv­in­schriften in runder Naskhi-Schrift. Vielleicht handelt es sich um Stücke aus Teppichen für die Krönung eines Mamelucken-Sultans. […]

Am stärksten sind italie­nische Brokate, namentlich aus Lucca, aber auch aus Florenz und Venedig, vertreten. Oft lustig anzusehen sind die Motive der kunst­vollen Darstellung. Adler und Falken, Elefanten und Affen, Gazellen, Leoparden und Antilopen, Löwen, Schwäne und Fische, Jagd- und Liebes­szenen, Schiffe und Bäume, Blüten, Blätter und Ranken sind in immer wechselnder Stellung und Reich­hal­tigkeit kunstvoll zu herrlichen Mustern zusam­men­gefügt. Unver­kennbar beweisen die Motive den starken Einfluß, den die Kunst Chinas und Vorder­asiens auf die italie­nische Brokat­we­berei in ihrer Blütezeit ausgeübt hat. Das geht soweit, daß man in Lucca pseudo­is­la­mische Schrift­zeichen einweben und Panther, Khilin und Fonghoang abbilden konnte. […]

Herrliche Kostbar­keiten unserer Sammlung sind schließlich die feinen, bunten Sticke­reien [mit überwiegend christ­lichen Motiven] auf Antependien und Altar­tü­chern, die dem norddeut­schen Raum von Lübeck bis Danzig und auch Schweden entstammen. […] Ergänzt wird die Sammlung durch eine größere Anzahl von Reliqui­en­kästchen, Kelch­tü­chern, prunk­reichen Sargdecken und Altar­be­hängen, Sudarien, Manipeln und Humerales sowie anderen gottes­dienst­lichen Utensilien.