Die Weichsel in der polnischen Kultur
Von Joanna Szkolnicka
Das polnische Parlament, der Sejm, erklärte das Jahr 2017 zum „Jahr der Weichsel“. Dadurch sollte die herausragende „nationale“ Bedeutung dieses Flusses nicht nur für die Wirtschaft des Landes, sondern auch für die polnische Kultur offiziell kenntlich gemacht werden.
„Noch im 16. Jahrhundert spielte es keine Rolle, ob einer an der Weichsel Pole war, Deutscher oder Litauer. Alle zusammen haben sie den Naturstrom zum Kulturstrom umgewandelt. Erst mit den Teilungen des polnischen Staates und dem Kampf der Polen um die Souveränität im 19. Jahrhundert wurde die Weichsel zum Symbol für die Einheit des Landes – und zum Mythos“ – schreibt Beata Halicka in ihrem Essay Wie ein Fluss zum Mythos wurde. Ein vielsagendes Beispiel, wie dieser Strom mit dem Polentum verschmolz, bietet die 1933 vom Bund der Polen in Deutschland getroffene Entscheidung, die stilisierte Darstellung des Weichsellaufes, das „rodło“, als Kennzeichen zu nutzen.
Sagen und Mythen
Die Verbindungen zwischen der „Königin der polnischen Flüsse“ und der polnischen Kultur reichen weit in die Geschichte zurück ; davon zeugen die Sagen zur Gründungszeit des polnischen Staatswesens. Eine dieser Geschichten ist erstmals im 12./13. Jahrhundert von dem Chronisten Wincenty Kadłubek niedergeschrieben (oder vielleicht erfunden) worden. Darin wird von der Prinzessin Wanda erzählt, die einen Heiratsantrag des deutschen Fürsten Rüdiger ablehnt. Als der Fürst daraufhin ihr Land überfällt – wobei er auf dem Schlachtfeld geschlagen wird –, stürzt sich die Prinzessin in die Weichsel, um ihren Untertanen weitere Angriffe zu ersparen – oder um den Göttern ein Dankopfer darzubringen. Eine interessante Adaptation dieses Sagenstoffes bietet der barocke Dichter Andrzej Zbylitowski (1565–1608) in seiner poetischen Beschreibung der Schweden-Reise von Sigismund III. Wasa, die der König 1594 von Warschau bis nach Danzig per Schiff auf der Weichsel unternahm : In seinem Gedicht wird Wanda zur Weichselgöttin, die angebetet werden soll, weil sie imstande ist, Wind und Wasser zu beruhigen und den Reisenden günstiges Wetter zu gewähren.
Wanda, du schöne Göttin der Weichsel reißenden Stromes,
Du, die Dein geringes Alter den ewigen Göttern geopfert,
Die Du einst dieses alte Reich regiert hast,
In dem deiner rühmenswerten Tugenden noch gedacht wird,
Wie Du die Feinde tapfer geschlagen
Und die Freiheit mit Deinem Mute verteidigt hast,
Wofür Du jetzt unter den Göttinnen im Himmel sitzt.
Schöne slawische Nymphe, ich bitte Dich eifrig :
Stille die Weichsel, stille den Wind,
Gib einen sicheren Weg,
Bewahre unsere Nachen, vertreib’ die Furcht.
Und ich, wenn ich – so Gott will – zu Deinem Grabhügel komme
(Wo lechitische Dryaden Deine Leiche bestattet haben),
Lasse ich wohlriechende Opfer verbrennen
Und Dir zustehende Gaben schenken.
Tekla Łubieńska, die Autorin der 1807 in Warschau aufgeführten fünfaktigen Tragödie Wanda, die sich großer Beliebtheit erfreute, nimmt die Sage im Geiste der Empfindsamkeit auf. Wanda erwidert zwar im Grunde ihres Herzens das leidenschaftliche Gefühl des deutschen Fürsten, das ihn, nachdem er abgewiesen worden ist, veranlasst, ihr Land mit Krieg zu überziehen. Sie gibt aber dem Wohl ihres Volkes den Vorrang vor dem persönlichen Glück, besiegt das Heer Rüdigers und opfert ihr Leben den Göttern, indem sie sich in der Weichsel ertränkt. Die Figur der Wanda und ihre Geschichte waren insbesondere bei den Schöpfern der polnischen Romantik und Spätromantik wie Juliusz Słowacki, Zygmunt Krasiński, C. K. Norwid, Teofil Lenartowicz oder Jadwiga Łuszczewska beliebt. Auf sie wirkten sowohl das tragische Schicksal der Prinzessin als auch das historische Szenario – die Zeiten des heidnischen Slawentums – äußerst anziehend.
Eine originelle, phantasievolle Variante des Sagenstoffes bietet der gleichermaßen als Künstler wie Dramatiker hervorgetretene Stanislaw Wyspiański (1869–1907), der Wanda regelrecht verehrte : Jedes Jahr nahm er in Krakau an dem farbenfrohen Festumzug von Wandas Gefolge teil, der zum Wanda-Hügel hinaufführt, und er schuf einen Glasfensterentwurf für die Wawel-Kathedrale, der sich mit dem Opfertod der Prinzessin auseinandersetzt. Für ihn ist Wanda eine illegitime Tochter des Fürsten Krak ; seine zwei Söhne begehren sie, ohne zu wissen, dass sie ihre Halbschwester ist, während Rüdiger als Anführer einer Banditenbande erscheint, der Wanda versklaven will. In dem düsteren Drama Legenda [Die Sage], in dem sowohl Elemente der antiken Tragödien als auch Anklänge an Macbeth oder die Welt Richard Wagners auftauchen, finden sich zahlreiche Weichsel-Motive – in diesem Werk tummeln sich etliche Nixen und Wassergeister, und selbst Wanda, die als Säugling im Schilf gefunden wurde, stammt nun von einer Weichselnixe.
Ich bin der Wasser-Urgewalt entommen
Und Tochter einer Wasserjungfrau.
Wegen mir dieser Ansturm von Unglück und Not.
Sie jagen mich ins Räuberlos hinein.
Ich hab’ den Bruder – einen Brudermörder getötet
Und wurde selbst zur Brudermörderin.
Für meine Schönheit sind Räuber zusammengelaufen,
Wegen der Göttin Rachelust.
Lebt wohl, seid gegrüßt !
Die letzte Liedernacht,
Da morgen Tod und Scheiterhaufen mich erwarten,
Singt mir bis zum Tagesanbruch.
Die Weichsel spielt auch in einer der berühmtesten polnischen Sagen eine entscheidende Rolle : In der Geschichte vom Wawel-Drachen, der die Krakauer Gegend verheert und Menschenopfer verlangt, wird die Bestie dank einer List besiegt : Man wirft ihr einen toten, mit Schwefel gefüllten Schafbock vor, den der Drache begierig frisst. Nun beginnt ihn ein brennender Durst zu quälen, den er dadurch zu stillen versucht, dass er Weichselwasser trinkt – und zwar so viel, bis er letztlich platzt. Diese Begründung für den Tod des Drachen gab zum ersten Male der Geschichtsschreiber und Schriftsteller Marcin Bielski (1495–1575). Seine Erzählung wurde zur populärsten Fassung dieser Sage.
Daneben ist die Weichsel auch die sagenhafte Heimstatt der Warschauer Seejungfrau, die die polnische Hauptstadt in ihre Obhut genommen hat. Merkwürdigerweise taucht dieses Motiv in der polnischen Literatur nur sehr selten auf. Ein reizvolles Beispiel für diese Sujet bildet das scherzhafte Gedicht Bajka warszawska [Das Warschauer Märchen] von Jan Lechoń (1899–1956). Dort beschreibt der Autor das Abenteuer seines Schriftstellerkollegen Leopold Staff, der beim Spaziergang zufällig der Seejungfer begegnet, von ihr in ihre Wohnung unter Wasser eingeladen wird und sich mit ihr dann über Poesie unterhält. – Eine weitere weniger bekannte Sage aus dem 19. Jahrhundert stammt von Franciszek Wężyk. Sie bezieht sich auf die Zwietracht von Weichsel und Narew, die beide um den Bug buhlen und deshalb in Eifersucht entbrennen.
Erheblich jünger als die bisher genannten Überlieferungen ist wohl eine Volkssage zur Entstehung der Weichsel, die von der Kinderbuchautorin Hanna Zdzitowiecka (1909–1973) bearbeitet wurde. Dieser Sage nach hatte der König Beskid zwei Töchter, Biała und Czarnuszka. Ihre Aufgabe war es, zwei Wasserquellen zu überwachen, die als Tränke für Waldtiere dienten. Eines Tages entschlossen sich die Schwestern allerdings ungeachtet ihres Auftrags, in die weite Welt zu gehen. Dabei wurden die Mädchen von Gewässern ihrer Quellen begleitet, die, dem Weg der beiden folgend, durch Schlesien und die Gegend von Krakau und Sandomir sowie durch Masowien und Masuren schließlich bis zur Ostsee gelangten.
Die Frühe Neuzeit
Eine der ersten dichterischen Weichsel-Darstellungen stammt von dem 1487 zum Poeta laureatus gekrönten Conrad Celtis, der in seinen Amores den gesamten Verlauf der Weichsel beschreibt. Seine lateinische Dichtung wird der deutschen Literatur zugerechnet, und deshalb hat Peter Oliver Loew sie bereits in seinem Beitrag zum „Jahr der Weichsel“ (DW 10/2017) ausführlicher gewürdigt.
Einige Jahrzehnte später wendet sich Jan Kochanowski (1530–1584) in einer Fraszka, einer kurzen, meist scherzhaften Verserzählung, die den Titel Na most warszewski [Über die Warschauer Brücke] trägt, an die „unnachsichtige Weichsel“. Dort preist er die List und Findigkeit von Sigismund August II., der 1573 in Warschau eine Weichselbrücke erbauen ließ. Auch im Schaffen anderer Dichter der Renaissance- und der Barock-Epoche rückt der große Strom in den Blick. Sebastian Fabian Klonowic (1545–1602) bietet beispielsweise in seinem Poem Flis [Flößer] die Beschreibung einer Weichsel-Reise voller nachdenklicher, tiefsinniger, aber auch humoristischer Passagen und Abschweifungen, bei der nicht einmal Ratschläge für junge, noch unerfahrene Aspiranten des Flößer- oder Kaufmannsberufs fehlen. (Genauere Erläuterungen zu diesem Poem finden sich, im Zusammenhang mit dem Weichsel-Museum in Dirschau, in DW 2/2017.) Die wirtschaftliche Bedeutung der Weichsel hoben neben Klonowic auch Jan Rybiński (* 1560, † nach 1608) sowie Adam Jarzębski (* vor 1590, † 1648 oder 1649) hervor. Weit entfernt von solch einer eher nüchternen Auffasung hält sich Adrian Wieszczycki (* um 1612, † nach 1654), ein fast vergessener Dichter des 17. Jahrhunderts, der in seinen Idyllen die Weichsel als Vertraute des unglücklichen Schäfers Damofon sieht : Ihr kann der Arme seinen Liebeskummer anvertrauen.
Von der Zeit der Teilungen bis zum Ersten Weltkrieg
Eine tiefgreifende Wende in den Darstellungsweisen wird in der polnischen Poesie seit den Teilungen Polens sichtbar. Seit dieser Zeit wandelt sich die Weichsel – im Verbund mit anderen Symbolen – zur Trägerin des Polentums. In seinem Gedicht Żale Sarmaty [Klagelied eines Sarmaten] klagt Franciszek Karpiński (1741–1845) dem Strom, dass es nun nicht mehr ein Pole sei, der sein Wasser trinke. Nun erscheint die Weichsel in der polnischen Poesie, insbesondere auf dem russischen Teilungsgebiet, oft metaphorisch als ein zugefrorener Fluss, der den Frühling ersehnt. Als Autoren seien hier beispielsweise Franciszek Dzierżykraj-Morawski (1783–1861), Kazimierz Brodziński (1791–1835) oder Andrzej Niemojewski (1864–1921) genannt.
In der Poesie, die nach den Teilungen entstand, erscheint wie im Schaffen von Władysław Tarnowski (1836–1878) oder Maria Konopnicka (1842–1910) jetzt auch häufig das Motiv der Weichsel als Mutter. Für Teofil Lenartowicz (1822–1893) ist der Fluss zugleich Mutter und Geliebte, während Wincenty Pol (1807–1872) sie mit einem lieben Kind und einer rühmenswerten Frau vergleicht. „Vom Blut besoffen“ ist die Weichsel hingegen in dem nach der Niederschlagung des Novemberaufstandes geschriebenen gleichnamigen Gedicht von Seweryn Goszczyński (1801–1876). In einem anderen Gedicht ruft der soeben schon genannte Teofil Lenartowicz den Fluss an und bittet ihn, er möge ein „Seeungetüm“ mit einem „Eidechsensäbel“ gebären, der die Moskowiter jagen würde. Wie intensiv die Weichsel damals mit dem verlorenen Vaterland assoziert wurde, bezeugen die Worte des populären Liedes Płynie Wisła, płynie [Die Weichsel fließt], in dem es heißt : Solange die Weichsel fließt, ist Polen nicht verloren.
Da seit Beginn des 19. Jahrhunderts das Volkstümliche, das Folkloristische und das Leben des „einfachen Volkes“ starkes Interesse fanden, griffen Autoren immer wieder gerne auf Motive der Flößerei zurück. Hierfür stehen die Dichtungen Pieśń Flisa [Lied des Flößers] von Stanisław Jachowicz (1796–1857) oder Maciej Flisak [Matthias der Flößer] von Artur Oppman (1867–1931). In der Poesie der Maria Konopnicka hingegen erscheint die Weichsel untrennbar mit idyllischen Bildern von Bauernhäusern und Getreidefeldern verbunden.
Hoppa, hoppa !
Lass uns ins wunderschöne Land fahren,
Dort, wo leuchtend blau die Weichsel fließt
Und Korn auf dem weiten Lande rauscht.
Lass uns fahren, hoppa !
Nun, wie heißt dieses Land ?
Das 20. Jahrhundert
Nach dem Ersten Weltkrieg und der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit zeigt sich die Weichsel innerhalb der polnischen Poesie in einem gänzlich neuen Licht. Im Verbund mit Innovationen wie der Industrialisierung entstehen bisher unbekannte Assoziationen. So nennt z. B. Mieczysław Braun (1902–1941) die Weichsel eine „ausgelaugte, graue, starke“ Arbeiterin. Dabei rücken Aspekte in den Vordergrund, die Stefan Żeromski schon in dem 1917 veröffentlichten Prosagedicht Wisła [Weichsel] betont hatte : Der Fluss wird ihm zum Inbegriff einer historisch begründeten patriotischen Erneuerung, und auf seiner wirtschaftlichen Nutzung wird die glückliche Zukunft des Vaterlandes beruhen.
Nochmals neue Töne sind in der Zeit nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wahrzunehmen – beispielshalber in den von Sehnsucht durchgedrungenen, in der Emigration verfassten Treny wiślane [Weichsel-Klagelieder] von Maria Pawlikowska-Jasnorzewska (1891–1945) oder dem – ebenso im Exil entstandenen – Gedicht Wisła i wyspa [Weichsel und Insel] von Kazimierz Wierzyński (1894–1969), das mit den Worten beginnt : „Polen liegt an der Weichsel / Niemand ist eine Insel.“ In seinem 1944 konzipierten Gedicht Być może, gdzie indziej [Vielleicht woanders] führt Stanisław Ryszard Dobrowolski (1907–1985) verschiedene Naturwunder und Sehenswürdigkeiten der Welt an – z. B. Sonnenutergänge über den Fjorden oder den Schatten der Pyramiden –, um dann festzustellen, dass ihnen ein Lied an der Weichsel und der Sand von Masowien stets vorzuziehen seien. Eine wichtige Rolle räumt Władysław Broniewski (1897–1962) der Weichsel in seinen bald nach dem Krieg entstandenen Gedichten ein ; ihm erscheint sie als eine Kraft, die seinen Ideen und Träumen wohlgesinnt ist ; und Tadeusz Kubiak (1924–1979) schließlich prägt die kühne Metapher, sie sei „pfauäugig von Abwässern“.
Neben der Poesie muss auch die Epik – der Roman und der mit ihm verwandte Film – in den Blick genommen werden, denn hier wird die Weichsel oftmals als tragendes Element der Raum- bzw. Landschaftsgestaltung sowie der atmosphärischen Rahmung genutzt. Dabei soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass einer der bedeutendsten polnischen Romane des Realismus, der von Eliza Orzeszkowa (1842–1910) verfasst wurde, den Titel Nad Niemnem [An der Memel] trägt. Im Roman Lalka [Die Puppe] von Bolesław Prus (1847–1912) wird beispielsweise das an der Weichsel liegende Warschauer Elendsviertel Powiśle geschildert. 1938 wurde der Strom sogar zum „Titelhelden“ des polnischen Filmes Ludzie Wisły [Menschen der Weichsel], in der die Regisseure Alexander Ford und Jerzy Zarzycki vom Leben der Weichselschiffer erzählen. 1953 arbeitete der schon erwähnte Dichter Władysław Broniewski zusammen mit seiner Tochter Joanna Broniewska-Kozicka am Drehbuch zu einem Film, der Wisła [Die Weichsel] heißen sollte. Sie bereisten gemeinsam das Land, um historisches, landeskundliches, archäologisches und hydrologisches Material zu sammeln. Die Arbeit am Film wurde 1954 aufgrund des tragischen Todes der Tochter aber abgebrochen. Broniewski selbst schrieb in einem seiner Gedichte : „Wenn ich sterbe / ertränkt mich in der Weichsel wie [die slawische Gottheit] Svantovit.“
Epitheta und Metaphern
Das breite Spektrum an Bedeutungen, die in der polnischen Kultur mit der Weichsel verknüpft werden, spiegelt sich nicht zuletzt in den Beiwörtern, den Epitheta, die die Farbe oder den Charakter des Flusses bezeichnen, oder in den Bildern und Umschreibungen, die sein Wesen fassen sollen. Bei den Farb-Epitheta dominiert selbstverständlicher Weise das Adjektiv „blau“. Daneben erscheinen auch Varianten wie – bei Jan Kanty Gregorowicz (1818–1890) oder Teofil Lenartowicz –„kornblau“ oder – bei Jarosław Iwaszkiewicz (1890–1980) – „lazurblau“. Artur Oppman und Kazimierz Laskowski (1861–1913) erscheint die Weichsel „silbern“, Edward Słoński (1872–1925) sieht sie „falb“, für Wacław Wolski (1863–1930) und Janusz Korczak (1878–1942) ist sie „grau“, für Maria Konopnicka hingegen „weiß“. Ebenso vielfältig wie die Farben variieren auch die charakterisierenden Epitheta. Hier finden sich die Adjektive „häuslich“ (Teofil Lenartowicz), „alt“ (Ignacy Danielewski, 1829–1907) oder „ruhig“ und „träumend“ (Roman Zmorski, 1822–1867), aber auch „hell“ und „spiegelartig“ (Anna Libera, 1805–1886) oder „blauäugig“ (Czesław Miłosz, 1911–2004).
Bei den Vergleichen und Bildern taucht – wie bei Symforian Tomicki (1817–1877), Kazimierz Laskowski (1861–1913) oder Janina Porazińska (1888–1971) – das „Band“ häufiger auf. Etliche Autoren kommen aber auch zu noch ausgesuchteren, wenn nicht mutigeren Formulierungen : Der Krakauer Philosoph Józef Kremer (1806–1875) nennt den Fluss emphatisch „Primadonna der großen Oper – der Natur“, und der Dichter Wincenty Pol sieht in der Weichsel ein Sinnbild für die gesamte polnische Literatur. Für Seweryn Filleborn (1815–1850) ist sie eine „Schwester von Gedanken und Gefühlen“, die „Geliebte des Meeres“ und eine „vielmächtige Herrscherin“. Józef Łapiński nennt sie „Königin der slawischen Flüsse“, während Maria Elżbieta Kamińska (1858–1878) sie mit einer stolzen orientalischen Prinzessin und Priesterin vergleicht, die ihre Schätze hütet. Sprachgewaltig kommt Marian Piechal (1905–1989) zu poetischen Bezeichnungen wie „Floß unserer Träume“ und „Quellen-Morgenröte“ ; Igor Sikirycki (1920–1985) apostrophiert sie als „Wiege der Sagen meines Landes“ und als „Adoptivschwester des Regenbogens“, und Krzysztof Kamil Baczyński (1921–1944) schließlich steuert zu diesem Bilder-Reigen noch seine Vorstellung bei, sie sei der „Fluss der Träume vom grünen Wassergeist“.