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„Ich wollte es genau wissen“ –

Die Internierung von Deutschen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs

Von Helmut Brauer

Eigentlich wollte ich nur unserer Familiengeschichte nachgehen – und bin dabei unversehens in die Zusammenhänge der allgemeinen Geschichte geraten, die sich innerhalb der fraglichen Zeit als sehr kompliziert erweist.

 Es war ein fester Bestandteil unseres Famili­en­lebens, dass unser Vater, ein leiden­schaft­licher Fotograf, uns immer mal wieder seine Dias zeigte. Natürlich auch Aufnahmen aus Obornik, das zur deutschen Provinz Posen gehört hatte und 1920 polnisch geworden war. Dort hatte mein Vater als Pfarrer der deutschen evange­li­schen Gemeinde gewirkt. Es gab viele Bilder schon aus der Zeit vor dem Krieg – besonders von Danzig und der Kaschubei, der Heimat meines Vaters. Auch Bilder von seinen zahlreichen Reisen gab es zu sehen. Irgendwie übten aber Aufnahmen, die sich auf das Thema der Inter­nie­rungen und Depor­ta­tionen im September 1939 bezogen, eine besondere Faszi­nation aus.

Unter den Fotos befanden sich solche von Gemein­de­gliedern, die unmit­telbar nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Zuge von Massen­ver­haf­tungen festge­nommen worden waren. So war beispiels­weise die evange­lische Gemeinde­schwester arretiert worden, als sie gerade, von der Pflege einer polnisch-katholischen Familie kommend, auf die Straße trat. Der jüngste Verhaftete war der 15-jährige Harry Fechner aus Bomblin, den der Vater erst ein Jahr zuvor konfir­miert hatte. Und Konrad Sempf, der Kassenwart des Jugend­vereins in der Gemeinde, war mit sieben Messer­stichen durch den Mantel erstochen worden, als er nach mehrtä­gigem Herum­irren in den Wäldern an eine Haustür in Lukow klopfte und um einen Trunk Wasser zur Stillung seines Durstes bat. Von diesen Vorgängen hatte mein Vater aller­dings erst erfahren, nachdem er am 7. September 1939 von einer Urlaubs­reise nach Oliva, auf der ihn der Kriegs­aus­bruch überrascht hatte, nach Obornik zurück­ge­kehrt war. Später erhielt er Kenntnis davon, dass er selbst und seine Frau Gerda hätten inter­niert – bzw. auf dem Markt­platz exeku­tiert – werden sollen.

Eine zweite Gruppe von Dias bildeten Fotos, die eines­teils während der beiden Suchfahrten der Zentrale für die Gräber ermor­deter Volks­deut­scher in den besetzten Ostge­bieten (Kurzform :  „Gräber­zen­trale“) entstanden waren, an denen mein Vater – vom 3. bis zum 6. Juni sowie im Juli 1940 – teilge­nommen hatte. Bei diesen insgesamt 81 Fahrten wurde ab dem 20. Oktober 1939 syste­ma­tisch nach den Gräbern von Inhaf­tierten gesucht, die bei ihrem Marsch in Richtung Warschau umgekommen, wenn nicht ermordet worden waren. Eines dieser Fotos – es entstand am 3. Juni 1940 – zeigt z. B. eine Exhumierung am Stadtrand von Sochaczew. Im Bericht der Gräber­zen­trale heißt es dazu :  „Nach Ankunft in Sochat­schew gelang es noch an demselben Tage am Rande der Stadt 5 ermordete Volks­deutsche zu bergen und auf dem Friedhof in Sochat­schew zu den dort bereits liegenden zu bringen. Die Särge hatten wir in der Stadt­tisch­lerei schon vorbe­stellt, sodaß die Arbeit rasch vonstat­tenging. Die Toten erhielten die Nummern 677 bis 681.“

Andern­teils fanden sich in dieser Gruppe dokumen­ta­rische Aufnahmen von der großen zentralen Trauer­feier, die für die exhumierten Opfer am 14. Juli 1940 in Obornik stattfand, sowie von einer Reihe von einzelnen Beerdi­gungen, die sich unmit­telbar daran anschlossen. Ein Beispiel bietet das Foto der Bestattung von Hermann Ramm in Roten­stein (Slonawy). Im Hinter­grund die Warthe. Jenseits des Flusses sind die Häuser des Ortes Neuendorf zu erkennen.

Neben den Erzäh­lungen meines Vaters gaben mir gerade diese Farbdias einen äußerst wichtigen Impuls, mich intensiv mit dem Problem der deutschen Inter­nierten am Beginn des Zweiten Weltkriegs ausein­an­der­zu­setzen. Dabei halfen mir weitere Quellen wie der Amtska­lender meines Vaters und weitere Insti­tu­tionen wie das Staats­archiv in Posen (Poznań), vor allem aber auch eigene persön­liche Kontakte in Polen wie zu Adam Malinsiki, einem regio­nal­his­to­risch höchst engagierten Lehrer aus Oborniki, der mir den Kontakt zu vielen Zeitzeugen und wichtigen Ansprech­partnern vermittelt hat.

Auf diesem Wege habe ich immer wieder an eine Bemerkung meines Vaters gedacht :  Es war ihm unver­ständlich, warum stets vom „Bromberger Blutsonntag“ gesprochen wurde, die Opfer unter den Inter­nierten aber – und insbe­sondere aus „seinem“ Kreis Obornik – kaum erwähnt wurden. Deshalb resul­tierte meine Arbeit nicht zuletzt auch aus meiner Motivation, diesen Toten ein indivi­du­elles Antlitz wieder­zu­geben ;  denn sie starben, nur weil sie Deutsche waren, vielleicht auch weil sie evange­lische Deutsche waren. An dem Krieg selbst traf sie keinerlei Schuld, und sie mussten stell­ver­tretend ihr Leben hergeben. Ihr Tod soll nicht in Verges­senheit geraten.

Heinz Werner – Dokumentation (s)einer Internierung

Der Weg ins Nichts 

Heinz Werner war der Bruder unserer Nenn-Tante Elsbeth Werner aus Obornik. Der Vater war Kaufmann. Hotel „Wernera“ wird ihr Wohnhaus heute noch genannt. Verhaftet wurde er am 3. September. Sammel­platz war die Volks­schule in Obornik. Es war Sonntag. Heinz trug seinen Sonntags­anzug, einen grauen Strei­fen­anzug. Der war maßge­schneidert – von der Stange gab es so etwas ja noch nicht. – Auch die Schuhe waren neu. Heinz war auf Kirchgang eingestellt.

Es wird unter­schiedlich erzählt, was die Inter­nierten mitnehmen durften :  Geld, Ausweis, etwas zu essen, Hygie­ne­ar­tikel. Wie lange die Inter­nierung dauern würde, wurde nicht gesagt. Ziel sollte das berüch­tigte Lager Bereza Kartuska hinter Warschau sein. In der Nacht auf den 4. September ging es los mit dem Marsch in Richtung Warschau. Die Eisenbahn stand nicht zur Verfügung. Von unterwegs kamen nur spärliche oder gar keine Nachrichten. Erst die nach und nach Zurück­ge­kehrten gaben Auskunft, wo man wann noch jemanden mit wem gesehen hatte – wenn es Leute gab, die einen kannten. Dabei gab es auch Fehlmel­dungen :  Jemand wurde angeblich gesehen, der schon tot war. Andere wurden totgesagt, obgleich sie noch am Leben waren. Bis Anfang / Mitte Oktober kamen vereinzelt noch Inter­nierte zurück, die auf die eine oder andere Weise den Marsch überstanden hatten.

Aber viele kamen nicht zurück. Eine umfang­reiche Vermissten-Liste veröf­fent­lichte das Posener Tageblatt am 14. / 15. Oktober 1939 ;  unter anderen Kreisen auch die Vermissten der Stadt und des Kreises Obornik. Heinz Werner wird dort als Vermisster genannt. Je mehr Zeit ins Land ging, desto wahrschein­licher war der Tod des Angehö­rigen. Viele Familien setzten Suchmel­dungen in die Zeitung. So auch der Vater :  Ernst Werner gab noch am 22. 11. 1939 eine Suchmeldung auf. Aber sein Sohn Heinz kam nicht zurück.

Die Suche nach den Opfern 

Am 20. 10. 1939 unternahm die „Gräber­zen­trale“ ihre erste Suchfahrt. Wer war daran beteiligt ?  Ein Pfarrer Berger, der es als seine Aufgabe ansah, die Toten aufzu­finden und würdig zu bestatten. Er hatte die Inter­nierung überstanden und kannte die Wege und die Stellen, wo man suchen musste. So auch ein Herr Lüneburg und Pastor Weyer aus Goslin. Bei den ersten Fahrten fuhren auch ein Gerichts­me­di­ziner und / oder ein Krimi­nal­kom­missar mit. Von Sanitätsrat Dr. Menzel aus Marienbad kam die Nachricht von Massen­gräbern des Obornik-Gnesen-Zuges dicht vor Warschau.

Soweit es die Oborniker Verschleppten anging, hatte man aufgrund von Aussagen Heimge­kehrter den Weg ihres Zuges rekon­struiert :  Er führte von Muranowa Goslin, Gnesen, Kleczew, Slesin und Sompolno über Babiak, Klodawa, Kutno, Lowitsch, Socha­czew und Blonie bis kurz vor Warschau. Sie gingen nicht alle in einer Gruppe, sondern in mehreren „Zügen“, deren Wege unter­ein­ander auch etwas abwichen. Um nicht den Angriffen deutscher Flieger ausge­setzt zu sein, ging man oft auch nachts und benutzte Nebenstraßen.

Wilhelm Brauer, mein Vater, war an zwei der Erkun­dungs­fahrten beteiligt. Eine davon war die Fahrt Nr. 40 vom 3. bis 6. Juni 1940. Im seinem Kalender findet sich schon am 9. Mai 1940 eine Notiz über die Vermissten Heinz Werner und (Robert) Wunderlich aus Obornik. In Klarschrift lautet der Text :  „Vor Koło abge-

­k.[ommen] II. Zug niemand. Hinter Koło noch 8 km vor Kłodawa H. Werner.– Wunderlich [unleserlich] Kutno“. Diese Angaben trafen aber nicht zu. Man fand Heinz Werner später an anderer Stelle.

Entdeckung des Leichnams 

Im Bericht über die 37. Fahrt wird indirekt der Vermisste Heinz Werner genannt. Dort wird im Dorfe Zlakow-Borowy „am Stall des Michael Głowacki ein Grab mit zwei unbekannten Toten“ erwähnt. Im Bericht über die 39. Fahrt der Zentrale für die Gräber ermor­deter Volks­deut­scher vom 3. bis zum 6. Juni 1940 finden sich dann Eintra­gungen, in denen die Entde­ckung des Leichnams geschildert wird. „Die Fahrt unserer Gruppe galt der Bergung der bei Zlakow-Kocielny ermit­telten Toten, der zwischen Zduny und Lowicz liegenden Volks­deut­schen und der zwei noch nicht unter­suchten Toten im Guts­park von Jackowice.“ Es folgen im Bericht die Bergung und die Unter­su­chung verschie­dener Volks­deut­scher, die bis etwa 21:00 Uhr dauerte.

„Im Anschluss daran wurden noch die drei einzelnen an der Straße liegenden Toten unter­sucht. Der am Stall des Michael Głowacki in Zlakow-Borowy liegende Tote dürfte Arthur Steinke aus Stöwenau sein. Auch der mit ihm in einem Grabe liegende Tote Nummer 666 scheint ein aus wirtschaftlich guten Verhält­nissen stammender Mann zu sein, der aufgrund der Armbanduhr, des zusam­men­schieb­baren Alumi­ni­um­trink­be­chers usw. verhält­nis­mäßig leicht zu identi­fi­zieren sein wird.“ Tatsächlich stellte sich nun – wenn auch erst einige Zeit später – durch einen Stoff­pro­ben­ver­gleich heraus, dass der Tote mit der Nr. 666 Heinz Werner aus Obornik war. Seine Schwester Elsbeth hat ihn identifiziert.

Den Hof, auf dessen Gelände der Leichnam gefunden worden war, gibt es übrigens immer noch, und er wird vom Sohn des früheren Besitzers Michael Głowacki bewirt­schaftet, der ebenfalls Michael heißt. Er erinnerte sich (2010 und 2011) an die Exhumierung „von zwei Zivilisten“ neben dem Stall ;  und er erinnerte sich auch noch daran, dass zwei Zivilisten im September 1939 an der Wand des Stalles erschossen wurden. Drei Schüsse seien nötig gewesen. Damals war Michal Głowacki jun. elf Jahre alt.

Erinnerungen der Schwester 

Elsbeth Werner, Kranken­schwester in den Zöckler­schen Anstalten in Wolfhagen und Schwester von Heinz Werner, hat bei einem mitge­schnit­tenen Gespräch im Mai 2003 diesen Fall aus ihrer Perspektive geschildert :

»Zu Hause kam ich an aus dem Kreis der Freude. Ich wusste noch nichts von meinem Bruder. Wir haben in Obornik in der Bahnhof­straße gewohnt. Dann hieß sie Göring­straße. Ich war wahnsinnig geschockt, als ich hörte, dass mein Bruder verschleppt worden ist. […] Freitag, 1. 9. 1939 fing der Krieg an. Sonntag haben die Polen in der Schule die Leute zusam­men­ge­trieben. Von dort sind sie in der Nacht wegge­trieben worden. Alle waren auf Sonntag angezogen.

[…]

Am 7. 9. ist mein Bruder von dem Zug abgekommen. Er konnte nicht mehr. Neue Schuhe haben gedrückt. Taten die Füße weh. Hinterher ist ein Wagen, Pferde­wagen, gefahren, polnische Miliz hat sie angetrieben. Heinz konnte nicht mehr, hat sich auf den Wagen geworfen, er könne nicht mehr weiter. Von der Miliz hat einer gesagt :  Was, so ein junger Mensch ?  Runter vom Wagen – er ist leider ganz hinten gegangen, das ist immer schlecht. Dann war er nicht mehr da. Es fielen Schüsse. Man meinte, sie hätten ihm gegolten. Dann sind sie weiter. Wenn er dabei geblieben wäre, wäre das toll gewesen. Es waren ja viele, die da getrieben wurden.

Als dann die Sucherei losging […] hat man überall bei den Bauern gefragt, ob bei ihnen in der Nähe irgend­welche Menschen verscharrt worden sind. Sie haben gezeigt. So auch in einem Ort, da wurde ausge­graben. Zwei in einer Grube. Der eine hatte eine Rechnung auf den Namen „Steinke“. Der andere – ich wusste schon, das musste mein Bruder gewesen sein. […] In der Zeitung stand, dass wieder welche Proben einge­troffen sind. Als ich das gelesen hatte, bin ich gleich auf die Nummer 666 zugegangen. Da sah ich gleich, dass das sein Muster war. Die Uhr war auch noch dabei. Er wurde also nicht beklaut. – Im Haus in Obornik war ein Erker gebaut. Sie standen und warteten auf uns – die Eltern – dann habe ich Zeichen gegeben. Dann wussten sie.

Unsere Toten aus Obornik wurden am 13. Juli 1940 – nach Obornik gebracht. Mein Vater ist den Tag nach Posen gefahren mit zwei von seinen Leuten. Er wollte ihn sehen. Sie haben gesagt, dass die rechte Gesichts­hälfte total einge­drückt sei – Heinz hatte wohl einen Kolben­schlag bekommen. „Ich bin wieder mit meinem Sohn da“ – sagte er bei seiner Rückkehr nach Hause.«

Die Bestattung der Opfer 

Am 14. Juli 1940 fand auf dem Markt­platz in Obornik eine Trauer­feier für 110 Tote aus dem Kreis statt. Der (sehr heiße) Sommertag begann um 7 Uhr mit einem Gottes­dienst in der vollen Oborniker Kirche. General­su­per­in­tendent D. Paul Blau hielt eine ergrei­fende Predigt über das Bibelwort Römer 14, 9 :  „Dazu ist Christus gestorben und aufer­standen und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebendige Herr sei.“ Die Organi­sation der anschlie­ßenden Feier auf dem Markt lag in den Händen der NSDAP. Die Rede hielt der Landrat und Kreis­leiter Walter Schnitzer. Gauleiter Greiser ließ sich vertreten – vielleicht weil er einer Begegnung mit dem General­su­per­in­ten­denten aus dem Wege gehen wollte. „Ich kenne keinen General­su­per­in­ten­denten und kein Konsis­torium, solange ich beide nicht einge­setzt habe“, pflegte er zu sagen.

Nach der Trauer­feier nahmen die Angehö­rigen ihre Toten in den Särgen zur Bestattung auf die Friedhöfe an ihrem Wohnort mit. Pfarrer Wilhelm Brauer hatte den ganzen Tag über Trauer­feiern auf verschie­denen Fried­höfen in Obornik und im Umkreis von Obornik zu halten.

Spuren in der „Totenkartei“ 

Im Staats­archiv von Posen befindet sich eine „Toten­kartei“. Sie besteht aus drei Kartei­kästen. Kasten 488 (A – Hübscher) enthält die Nummern 1–1259 ;  Kasten 489 (Igel–Quast) die Nummern 1–1273 ;  Kasten 490 (Raapke–Zwilling) die Nummern 1–1228. Einige Karten­rück­seiten sind bei zusätz­lichen Einträgen zu einzelnen Personen in die Numme­rierung einbe­zogen. Daher ist die Summe der Nummern nicht identisch mit der Anzahl der Karten und der hier regis­trierten Toten.

Im Kasten 490 findet sich auch die Kartei­karte von Heinz Werner, an der sich der Aufbau und die Genau­igkeit dieser Daten­er­fassung exempla­risch veran­schau­lichen lassen. Sie trägt die Nummer 1019 und bietet die folgenden ­Infor­ma­tionen :  Geboren am 14. 2. 1909 in Boruschin, Kaufmann, ledig, wurde am 3. 9. 1939 verhaftet. Tot aufge­funden am 3. 6. 1940 in Zlakow-­Borowy, Kreis Lowitsch. Überführt nach Obernick [!] am 14. 7. 1940. – Identi­fi­ziert durch seine Schwester Frl. Elisabeth Werner aufgrund der Stoff­proben am 19. 6. 1940. Meldung erfolgt durch amtliche Meldung Obornik. Standesamt Lowitsch, Kr. Lowitsch Gouver­nement, Nr. 37 / 41. Die Grabnummer ist 666 [die stand so auch auf dem Sarg] ;  Bezug genommen wird zudem auf einen Tatsa­chen­be­richt Nr. 901.

Die Anzahl der Karten liegt bei 3.315. Wie diese Karten letztlich zu deuten sind, bedarf einer genaueren Bewertung. Zur Feststellung der Anzahl der Toten ist diese Kartei aber von grund­le­gender Bedeutung. Die Namen der Vermissten sind in einer anderen Kartei geführt. Tote und Vermisste wurden von der Gräberzen­trale Ende 1939 mit 5.437 angegeben.

Mitte Mai 1941 hatte die Gräber­zen­trale alle Kreise aufge­fordert, eine abschlie­ßende Erfassung vermisster oder ermor­deter Volks­deut­scher bereit­zu­stellen. Der Landrat des Kreises Obornik gab am 6. Juni die Rückmeldung :  „Aus dieser Zusam­men­stellung ergeben sich 145 ermordete, bereits beerdigte und 51 noch vermißte Volks­deutsche.“ Zusammen sind das somit 196 Opfer aus dem Kreis Obornik.


Der 1. September 1939 hat sich unaus­löschlich als ein zentrales Schick­sals­datum in die deutsch-polnische Bezie­hungs­ge­schichte einge­brannt. An diesem Tage begannen mit dem deutschen Angriff auf Polen nicht nur die kriege­ri­schen Ausein­an­der­set­zungen, sondern es wurden auch von langer Hand vorbe­reitete Pläne umgesetzt, die auf beiden Seiten zu massiven Unrechts­hand­lungen führten. Diese ersten Kriegstage, die von einem Ausbruch erschre­ckender Bruta­lität gekenn­zeichnet waren, belegten ein weiteres Mal, dass Mensch­lichkeit und Empathie stets zu den ersten Verlusten eines Krieges gehören.

Symme­trisch um den 1. September angeordnet, wollen wir in zwei Beiträgen aus den national unter­schied­lichen Perspek­tiven an diese Vorgänge erinnern. In dieser Ausgabe beginnen wir mit den deutschen Zivilisten, die den Inter­nie­rungs­maß­nahmen der polni­schen Behörden zum Opfer gefallen sind. Die jahrzehn­te­langen, hitzigen Debatten, die über die Abläufe und Zahlen geführt worden waren, haben mit den neueren Forschungs­er­geb­nissen von Włodzi­mierz Jastrzębski (Die deutsche Minderheit in Polen im September 1939, Münster 2012) einen gewissen Abschluss gefunden. Seitdem kann es als allgemein gesichert gelten, dass in dieser Zeit etwa 4.500 Menschen umgekommen sind ;  und auch in Polen wird inzwi­schen akzep­tiert, dass es sich dabei um unnötige Verluste handelte, die durch viele Fehler der polni­schen Vorkriegs­be­hörden hervor­ge­rufen worden waren.

Wir greifen dieses Geschehen aber trotzdem nochmals auf, weil Helmut Brauer, der Autor unseres Artikels, nicht nur durch seine eigenen Recherchen wesent­liche Beiträge zur Erhellung der kompli­zierten Abläufe geleistet hat, sondern auch über Quellen und Fotografien verfügt, die es ihm erlauben, unseren Lesern – ganz jenseits der sonst so stark betonten, aber letztlich anonymen Opfer­zahlen – in exempla­ri­scher und eindrucks­voller Weise das Schicksal eines einzelnen Menschen zu dokumentieren.

DW