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Erinnerungen an die Heimat: Der Anatom Samuel Thomas Soemmerring aus Thorn und sein Stammbuch

Im 18. Jahrhundert erfreute sich das Stammbuch, auch Album amicorum oder Liber memoralis (Erinne­rungsbuch) genannt, unter Studenten großer Beliebtheit. Die oft aussa­ge­kräf­tigen und farben­frohen Widmungen dienten den damaligen Besitzern als »Erinne­rungs­mittel« und »Denkmal der Freund­schaft«. Heute gewähren sie biogra­phisch und sozial­historisch Forschenden Einblicke in die Herkunft und Bildungs­ge­schichte des Stamm­buch­be­sitzers und ermög­lichen es darüber hinaus, persön­liche und beruf­liche Umfelder zu rekon­stru­ieren. Auch das Album amicorum eines aus Thorn stammenden Göttinger Studenten und späteren Univer­si­täts­pro­fessors ist bis heute erhalten. Das in der Handschrif­ten­ab­teilung der Univer­si­täts­bi­bliothek Frankfurt am Main aufbe­wahrte Büchlein gehörte dem Anatomen und Natur­for­scher Samuel Thomas Soemmerring.

Wer war Soemmerring ?

Samuel Thomas Soemmerring wurde am 28. Januar 1755 als Sohn des Thorner Stadt­phy­sikus und prakti­schen Arztes Johann Thomas Soemmerring (1701–1781) in Thorn geboren, seine Mutter Regine Soem­merring (1721 – nach 1781) war die Tochter des Pastors der Thorner Marien­kirche, Christoph Heinrich An­dreas Geret (1686–1757), und eine Schwester des Theologen, Gymna­si­al­pro­fessors und Stadt­ge­schichts­for­schers Samuel Luther von Geret (1730–1797). Der Jurist und Thorner Stadtrat Johann Gottlob (1753–1812) war Soemmer­rings älterer Bruder.

Bis heute zählt Soemmerring zu den einfluss­reichsten Natur­for­schern und Ärzten der Goethezeit. Zu Lebzeiten bekannt als der Verfasser des fünfbän­digen Standard­werks Vom Baue des mensch­lichen Körpers ging er aber gerade wegen seiner anderen, von vielfäl­tigen Inter­essen zeugenden Schriften in die Annalen der Anatomie- und Wissen­schafts­ge­schichte ein :  Im Laufe seines 75-jährigen Lebens beschäf­tigte er sich mit Embryo­logie und Anthro­po­logie, publi­zierte über Sonnen­flecken und mensch­liche Fehlbil­dungen, legte Abhand­lungen über Flugsaurier- und Urzeit­kro­ko­dil­funde vor und entwi­ckelte zudem ­einen elektro­che­mi­schen Telegraphen.

Nach dem Besuch des Thorner Gymnasium acade­micum immatri­ku­lierte sich der junge Samuel wie sein älterer Bruder Johann Gottlob und zuvor sein gleich­na­miger Onkel 1774 an der noch jungen, dem Geist der Aufklärung verpflich­teten Univer­sität Göttingen. Soemmer­rings Fleiß und anato­mi­sches Geschick wurden von seinem medizi­ni­schen Umfeld gelobt, seinem von ihm geliebten Spezi­al­gebiet, der Anatomie, widmete er sich auch in seiner Freizeit mit Leidenschaft.

Movens für die Zerglie­derung des mensch­lichen Körpers war für ihn das Bestreben, die Erkennt­nisse und das Wissen der Natur­ge­schichte seines Jahrhun­derts zu befördern. Ganz Kind seiner Zeit und geprägt vom Klima der Reform­uni­ver­sität Göttingen, schrieb er über das nun angebro­chene Zeitalter der Aufklärung, es fördere die »Natur- und Menschen­kenntniß in unserm Vater­lande« und überwinde die »dunkeln Jahrhun­derte unsrer Vorfahren, wo das ­eiserne Joch des unbarm­her­zigen Aberglaubens die Vernunft drückte«.

Soemmer­rings Weg führte von Göttingen nach Kassel, wo er von 1779 bis 1784 eine anato­mische Professur bekleidete, dann nach Mainz und Frankfurt. Nach dem Tod seiner geliebten Frau Betty, Marga­rethe Elisabeth Soemmerring, geborene Grunelius (1768–1802), einer ausge­bil­deten Malerin, Zeich­nerin und Kupfer­ste­cherin, verließ er die Stadt am Main und folgte einem Ruf König Maximi­lians I. Joseph (1756–1825), um als dessen Leibarzt und Mitglied der Bayeri­schen Akademie der Wissen­schaften in München zu leben. 1820 kehrte er nach Frankfurt zurück, wo er 1830 nach einem erfüllten, an Ehrungen und persön­lichen Würdi­gungen reichen Leben starb.

Zu Soemmer­rings bis heute anerkannten Verdiensten auf dem Gebiet der Neuro­ana­tomie, seiner Lieblings­dis­ziplin, gehört die Beschreibung der Seh­nervenkreuzung und die Entde­ckung des Gelben Flecks im Auge, dem Ort des schärfsten Sehens auf der Netzhaut. Seine Immanuel Kant gewidmete Schrift Über das Organ der Seele (1796), von Friedrich Hölderlin mit einem Distichon gewürdigt, wurde jedoch ebenso wie sein Aufsatz über den Tod durch die Guillotine (1795) und das Buch über die Körper­liche Verschie­denheit des Negers vom Europäer (1785) kontrovers disku­tiert. Die Schriften über die Kasseler Misge­burten (1791) und die Wirkungen der Schnür­brüste (1793) wurden in der belle­tris­ti­schen Literatur von Jean Paul und Wilhelm Heinse rezipiert. Soemmer­rings Freund Heinse griff den Appell gegen die Einschnürung des weiblichen Brust­korbs auf und widmete den Soemmer­ring­schen Erkennt­nissen in seinem »Sängerinnen«-Roman Hildegard von Hohenthal (1795) program­ma­tische Zeilen :

Frau von Lupfen hatte ihre Stimme verloren, weil sie in ihrer ersten Jugend geschnürt worden war. […] Der selige Hohenthal gestattete nie, daß man seine Tochter schnürte, und sie war frey, wie eine Sparta­nerin, eine Georgierin, herangewachsen.

Nicht nur mit Heinse, sondern auch mit Goethe pflegte Soemmerring einen regen Austausch. Man korre­spon­dierte über englische Ferngläser oder optische Phänomene und schickte sich Bücher oder anato­mi­sches Anschau­ungs­ma­terial :  Eine als »Porzel­lan­sendung« dekla­rierte Kiste enthielt einen von Soem­merring zerglie­derten Elefan­ten­schädel aus der Kasseler Menagerie, an dem Goethe seine Theorie vom Zwischen­kie­fer­knochen überprüfen wollte.

Der engste Freund war der fast gleich­altrige Welt­umsegler Georg Forster (1754–1794) aus Nassen­huben bei Danzig, den der junge Anatom während einer Studi­en­reise nach Holland und England in London kennen­ge­lernt hatte. Zwischen den beiden Wissen­schaftlern, die gemeinsame Jahre in Kassel und später in Mainz verbrachten, bestand ein inniges und intel­lek­tuell befruch­tendes »Seelen­bündnis«.

Das Stammbuch

Häufig wurden studen­tische Stamm­bücher weniger als Album der Freund­schaft, sondern als Theatrum erudi­torum (im Sinne einer Sammlung oder Galerie der Gelehrten) genutzt. Man könnte also annehmen, dass Soemmer­rings Bekannt­schaft mit den berühmten Zeitge­nossen auch in seinem Stammbuch Nieder­schlag gefunden hätte. Das ist nicht immer der Fall. Weder die Göttinger Medizin­pro­fes­soren noch Besucher der Kasseler Anatomie wie Goethe oder Johann Heinrich Merck (1741–1791) hinter­ließen Sprüche und Autogramme. Verewigt hat sich jedoch der Freund Forster. Sein Album­blatt vom 17. August 1779 zählt zu den kunst­vollsten und schönsten Erinne­rungs­stücken. Es zeigt einen fälschlich als Turdus minutus (Zwerg­drossel) bezeich­neten Fliegen­schnäpper, den Forster während seiner Weltreise mit James Cook auf den Norfolk­inseln gesehen und gemalt hatte, gewidmet hat er das Bild »seinem« Soemmerring.

Doch da die ersten Album­ein­tra­gungen von Thorner Freunden und Bekannten der Familie kommen (alle diese Widmungen tragen das Datum August oder September 1774), kann man vermuten, dass das Büchlein anlässlich der Abreise aus der Heimat angelegt wurde. Der erste Eintrag vom 20. August 1774 ist von Johann Michael Wachschlager, Stadt­notar und Mitglied der ältesten Thorner Patri­zi­er­fa­milie. Das Album­blatt zeigt eine dezent kolorierte Tusch­zeichnung einer Fluss­land­schaft mit Brücke und Weg – vielleicht eine Passage an der Weichsel. Der darunter stehende Widmungs­spruch lautet »Semper puta optimum, quod est tutis­simum« [Nimm stets das Beste an, denn das ist am sichersten], den er dem Angedenken wegen (»mem[oriae] caus[a]«) aufge­schrieben hat.

Ihm schließen sich der praktische Arzt Natha­nael Friedrich Gottstein (1724–1803), der Bildhauer Johann Anton Langenhan mit der auf den Prediger Salomo (»Vanitas, vanitatum, et omnia vanitas«) zurück­ge­henden Titel­zeile des Gryphius-Sonetts Es ist alles ­eitel und Christian Ernst Tynning mit dem Bild einer Fluss­land­schaft an. Tynnings einge­klebtes Bild überdeckt seinen aus Johann Fürch­tegott Gellerts Gedicht Selinde stammenden Widmungsvers :  »Je minder sich der Kluge selbst gefällt :  Um desto mehr schätzt ihn die Welt.« Einge­bettet in eine Schäfe­rin­nen­idylle in antiki­sierter Umgebung platziert Gottstein seinen Sinnspruch aus Ciceros Gesprächen in Tusculum :  »Nullum The/atrum Virtuti/ Conscientia/ majus est« (Tuscu­lanae dispu­ta­tiones 2, 26), frei übersetzt mit »Der Tugend Schau­platz ist ihr Gewissen«. Und der mit all seinen akade­mi­schen Titeln unter­zeich­nende strenge Vater schließlich entlässt den Sohn zum Studium mit dem den Benedik­tinern zugeschrie­benen Motto Ora et labora am 14. September 1774 in die weite Welt.

Es ist vor allem eine (auf S. 20 gezeigte) Bilder­collage, die das bevor­ste­hende Neue und das mit dem Abschied von der Heimat­stadt Verge­hende mitein­ander verbindet :  J. C. Treutner gestaltet am 6. September 1774 ein Ensemble aus Landkarten, Portraits und Stadt­an­sichten, die der zurück­ge­las­senen Stadt Thorn und der neuen Heimat Göttingen Referenz erweisen :  Zu sehen sind zwei gezeichnete Landkarten, von denen die eine Göttingen und das nähere Umfeld der Stadt zeigen, während die zweite Thorn sowie Alt-Thorn mit der Weichsel festhalten. Schwarzweiß-Zeichnungen bilden der Dansker als Burgzugang und das ehrwürdige Thorner Rathaus mit seinem charak­te­ris­ti­schen Turm sowie eine vermutlich Göttinger Kirche ab, eine Kreuzdame-Spielkarte mit der Aufschrift »Regine« verweist auf Soemmer­rings Mutter, der zudem eine Portrait­zeichnung gewidmet ist. Der Scheren­schnitt stellt entweder den jungen Medizin­stu­denten selbst oder den Vater dar, und der gezeichnete Brief­um­schlag mit dem Siegel mag wohl den demnächst einset­zenden Brief­verkehr mit der Heimat symbolisieren.

Eine weitere kolorierte Zeichnung zeigt den Plan der Stadt Thorn, der sich an das bekannte Merian-Bild von 1641 anlehnt. Die histo­rische Darstellung wird hier durch Orte jenseits der alten Stadt­be­fes­tigung ergänzt :  So sind ein Spital, eine Grütz­mühle, Gärten und ähnliches mehr verzeichnet. Da das Blatt nicht signiert ist, könnte Soemmerring selbst, der ein begabter Zeichner war, der Urheber des Bildes sein. Die Handschrift der Bildle­genden ist derje­nigen Soemmer­rings sehr ähnlich, auch die nicht eindeutig zu entzif­fernde Jahreszahl (vrmtl. 1803) könnte auf einen späten eigenen Eintrag hinweisen.

Noch zwei weitere Thorner sind im Buch zu finden, der Bruder und der Onkel :  Der in Göttingen Rechte studie­rende ältere Bruder Johann Gottlob trägt sich am 6. November 1774 in Göttingen mit dem auf Horaz’ Carmina (Liber secundus) zurück­ge­henden Spruch Aurea Medio­critas (der goldene Mittelweg) ein ;  die Widmung Samuel Luther von Gerets vom 17. September 1779 aus Thorn lässt vermuten, dass Soemmerring im Frühherbst 1779 seiner Heimat­stadt einen Besuch abstattete. Im Übrigen preist auch der vom Onkel ausge­wählte, auf die Fragmente der frühen Stoiker zurück­ge­hende Sinnspruch  » Ὂτι ­αὐταρκήζ αρετή πρόϛ εὐδαιμουίαυ« [dass die Tugend zur Glück­se­ligkeit genügend – autark – sei] (SVF III 30.49) das Lob der Tugend.

Das Album als Träger der Erinnerung

Noch heute wird der Betrachter des Stamm­buchs von der Kunst­fer­tigkeit und Sorgfalt der Widmungen angesprochen. Allego­rische Darstel­lungen und anspie­lungs­reiche Zeich­nungen sowie die zahlreichen griechi­schen, latei­ni­schen und franzö­si­schen Zitate spiegeln den Bildungs­stand der sich Verewi­genden und des gelehrten Besitzers wider, Beispiele wüsten Studen­ten­lebens mit Saufge­lagen und Burschen­herr­lichkeit findet man auf den Blättern nicht.

Man kann nur vermuten, nach welchen Kriterien Soemmerring die Personen auswählte, denen er sein Stammbuch vorlegte. Da die ganz berühmten Zeitge­nossen, mit denen er zu Lebzeiten Kontakte pflegte, fehlen, kann man davon ausgehen, dass es ihm nicht darum ging, die Autographen bedeu­tender Gelehrter und Schrift­steller zu sammeln. Vielmehr nutzte er das Büchlein, um enge Freunde und Verwandte in gutem Gedächtnis zu behalten :  Das Album diente ihm als Ort und Speicher der Erinnerung, in dem auch das Andenken an den Freundes- und Famili­en­kreis aus der Thorner Heimat bewahrt wurde.

 Ulrike Enke (Marburg)

Soemmerring-Gedenken in Thorn

Kassel, Mainz und Frankfurt am Main haben Straßen und Plätze nach Soemmerring benannt, und auch in Thorn wird das Andenken an den berühmten Sohn der Stadt gepflegt. Bereits 1868 hatte der Copernicus-Verein in Thorn an seinem Geburtshaus östlich des Altstädter Markt­platzes eine bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges erhaltene Gedenk­tafel angebracht. Flaniert man heute durch den Stadtkern, stößt man an der Rynek Staro­miejski auf das Haus Nr. 33, wo am 28. Juni 2003 anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Städte­part­ner­schaft zwischen Göttingen und Thorn erneut eine Tafel enthüllt wurde. Sie zeigt das in Anlehnung an den Kupfer­stich von Ambroise Tardieu gestaltete Halbrelief des jungen Soemmerring, frisiert und gekleidet nach der Mode des ausge­henden 18. Jahrhun­derts, und trägt in polni­scher und deutscher Sprache die Inschrift :

Samuel Thomas Soemmerring, ein Gelehrter von Rang, Professor der Medizin, Erfinder des Telegraphen, ist in diesem Haus im Jahr 1755 geboren.