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Polnische Erinnerungskultur im Wandel

Denkmäler für die Opfer von NS-Gewaltverbrechen
des Jahres 1939 in Westpreußen

Von Roland Borchers

Das untere Weichselland ist übersät mit Kriegsdenkmälern. Hunderte von Erinnerungsstätten sind über das ­frühere Westpreußen verstreut. In Deutschland ist – wenn auch nach sehr langem Zögern – das Bewusstsein dafür geschärft worden, dass all diese Plätze auch unmittelbar mit der deutschen, speziell der westpreußischen Geschichte  verbunden sind und dass sie sowohl bilateral als auch in einer europäischen Perspektive wichtige deutsch-­polnische ­Erinnerungsorte bilden. Zugleich zeigt sich freilich schon seit geraumer Zeit, dass der Umgang mit diesen ­Stätten auch innerhalb der polnischen Geschichtskultur Wandlungen unterworfen ist – wenn er nicht, wie gerade ­aktuell, sogar durch eine „neue“ staatliche Geschichtspolitik beeinflusst werden soll. – Angesichts dieser verschiedenen, wechselseitig aufeinander bezogenen Entwicklungen erscheint es lohnend, sich, mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Krieges, diese Orte und ihre Geschichte neuerlich zu vergegenwärtigen und ihren wechselnden Funktionen und Kontexten genauer nachzugehen.

Piasnitz und Fordon

Wer Westpreußen mit dem Auto bereist, stößt immer wieder auf diese Hinweis­schilder :  zwei Schwerter auf weißem Grund, an den Seiten schwarze Dreiecke, darunter eine rote Flamme. Solch ein Zeichen befindet sich auch in Piasnitz (Piaśnica), im Wald gelegen, nördlich von Neustadt und südlich von Krockow. Dieser Ort ist für die Kriegs­erinnerung im Danziger Raum von heraus­ra­gender Bedeutung. Der dortigen Gedenk­stätte, von der auch eines der Mahnmale auf der Titel­seite dieser DW-Ausgabe zu sehen ist, stattete BdV-Präsidentin Erika Steinbach MdB 2011 gemeinsam mit der Präsi­dentin des BdV-Frauen­verbandes Sibylle Dreher ­einen vielbe­ach­teten Besuch ab.

Die großzügige Anlage besteht aus einer Gedenk­stätte mit einer hohen Gedenk­säule an der Straße sowie – über Feldwege erreichbar – dutzenden anonymen Massen­gräbern und einer Freilicht­ka­pelle, die 2010 errichtet wurde. Für das nördliche Westpreußen symbo­li­siert Piasnitz die Verbrechen der Deutschen im Herbst 1939. Hier töteten ­natio­nal­so­zia­lis­tische Einheiten ca. 12.000 Polen und Kaschuben, aber auch Deutsche aus psych­ia­tri­schen Anstalten in Pommern, wobei Letztere in der Erinnerung kaum einen Platz zugewiesen bekommen. Es handelt sich vielmehr um einen national-polnischen Gedenkort.

Was ist im Herbst 1939 geschehen ?  Direkt nach dem Einmarsch der Wehrmacht zogen aus dem Deutschen Reich und Danzig verschiedene deutsche Einheiten in das Hinterland der Front – Einsatz­gruppen, Einsatz­kommandos, reguläre Polizei. Sie töteten in Westpreußen 30.000 bis 40.000 Polen, welche die Natio­nal­so­zia­listen für Gegner des Deutschen Reiches hielten, vor allem die Intel­ligenz. (Deshalb trugen diese Massaker auch den zynischen Namen »Intel­li­genz­aktion«.) Eine zentrale Rolle spielte dabei – insbe­sondere in Westpreußen – der so genannte »Volks­deutsche Selbst­schutz«, zu dem sich »Volks­deutsche« aus der Region in der Zwischen­kriegszeit zusam­men­ge­schlossen hatten. Dessen Leitung übernahm Ludolf von Alvens­leben am 9. September 1939, und der »Selbst­schutz« betei­ligte sich jetzt maßgeblich an den Gewalt­ver­brechen. Die Mitglieder sorgten dafür, dass sogar zahlreiche einfache Polen, die mit der Intel­ligenz und dem Wider­stand gar nichts zu tun hatten, getötet wurden. Es ging grund­sätzlich um Rache für die polnische Korridor-Zeit, für den vermeint­lichen »Raub« Westpreußens, aber auch um Habgier und Berei­cherung. Die von den Natio­nal­so­zia­listen propa­gan­dis­tisch ausge­schlachtete Ermordung von Deutschen unmit­telbar nach dem Kriegs­aus­bruch, vor allem im Bromberger Raum (beim sog. »Bromberger Blutsonntag«), stachelte die Menschen zudem auf. Gerade in der Bromberger Gegend töteten die Deutschen besonders viele Polen :  eine traurige Berühmtheit erlangte dabei Fordon (das »Tal des Todes«), heute ein Stadtteil von Bromberg.

In Fordon wurde 1975 ein imposantes Denkmal erbaut :  es soll Getrei­de­ähren darstellen, die aus einem massiven Beton­fun­dament heraus­wachsen. An dem Sockel sind ein Relief, das die Gequälten darstellt, sowie Namens­tafeln für einen Teil der Ermor­deten angebracht. Im unteren Bereich wird der Tod symbo­li­siert – und im oberen das Leben. Auf dem Gelände befinden sich weitere kleinere Denkmäler und Kunst­werke; zudem wurde in den Jahren 2004 bis 2009 ein Kreuz­weg errichtet, der zwölf Stationen umfasst. Abgeschlossen wird er vom »Tor zum Himmel« :  Eine hohe Mauer, die aus kleinen Kreuzen besteht, wird in der Mitte von einem großen Kruzifix durch­brochen. Die kleinen Kreuze symbo­li­sieren die hier Ermor­deten, die somit zum Leidensweg Christi in Beziehung gesetzt werden. Es ist eine religiös aufge­ladene Inter­pre­tation und Verar­beitung der NS-Verbrechen. Auch an unzäh­ligen anderen Orten in Westpreußen befinden sich kleine Gedenk­an­lagen und Grabstätten, aller­dings meist ohne christ­liche Symbolik, denn solche Assozia­tionen wurden vom kommu­nis­ti­schen Regime in der Volks­re­publik Polen möglichst vermieden.

Opfer-Konkurrenz und kommunistische Ideologie

Den deutschen Verbrechen vom Herbst 1939 kommt somit eine zentrale Funktion für die Erinne­rungs­kultur im unteren Weich­selland zu. Sie symbo­li­sieren das besondere Leid der hiesigen Bevöl­kerung unter der deutschen Besatzung – und dienen dadurch auch der Heraus­bildung einer zumindest teilweise eigen­stän­digen histo­ri­schen Identität in diesem Raum :  Mit Recht wird immer wieder kriti­siert, dass die polnische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu stark auf Zentral­polen ausge­richtet sei und von der Entwicklung im General­gou­ver­nement dominiert werde. Die Geschichte der Gebiete, die in das Deutsche Reich einge­gliedert waren, werde zu wenig berück­sichtigt ;  denn in Oberschlesien, Westpreußen und dem Posener Land hätten die Natio­nal­so­zia­listen eine deutlich andere Besat­zungs­po­litik prakti­ziert. Wenn es um die frühen NS-Verbrechen geht, dann wird in Polen tatsächlich primär an die so genannte »Außer­or­dent­liche Befriedungs­aktion« (AB-­Aktion) erinnert. Sie fand im Frühjahr 1940 im General­gou­ver­nement statt und hatte die Verhaftung und Ermordung der Eliten zum Ziel. Diese Aktion ist im öffent­lichen polni­schen Gedächtnis präsent, aber die meisten Menschen wissen nicht, dass die einge­glie­derten Gebiete davon schon nicht mehr betroffen waren, weil die dortige polnische Oberschicht bereits im Herbst 1939 beseitigt worden war. (Dass die kollektive polnische Kriegs­er­in­nerung vor allem von der Geschichte des General­gou­ver­ne­ments ausgeht, zeigt sich übrigens auch bei anderen Aspekten, zum Beispiel bei der Bewertung der Deutschen Volks­liste und der daraus resul­tie­renden Wehrpflicht.)

Unabhängig von solchen regio­nalen Unter­schieden bildet die Erinnerung an die deutschen Verbrechen seit dem Kriegsende insgesamt einen zentralen Bezugs­punkt polni­scher Identi­täts­stiftung. Die meisten Denkmäler wurden in den 1960er Jahren errichtet :  1962 entstand in Stutthof (Sztutowo) auch die KZ-Gedenkstätte. Fast 20 Jahre waren seit dem Krieg vergangen, und das kommu­nis­tische Regime, das durch den sowje­ti­schen Sieg an die Macht gekommen war, instru­men­ta­li­sierte die Erinnerung an den Krieg, um den Hass gegen die Deutschen zu schüren und sich auf diesem Wege auch selbst zu legiti­mieren. Die Kriegs­er­in­nerung wurde zum zentralen Instrument, durch dessen massive Nutzung Staat und Volk geeint werden sollten. An fast allen Orten, an denen Polen getötet worden waren, entstanden Denkmäler, Schulen übernahmen die Paten­schaften zur Pflege der Anlagen. Der Staat bediente das Erinne­rungs­be­dürfnis der Menschen, Volk und Partei zogen – zumindest offiziell – an einem Strang.

Neue Aspekte der Geschichtspolitik

In den 1960er Jahren und bis in die 1970er Jahre hinein funktio­nierte dieser Ansatz noch sehr gut. Doch mit der Annäherung an die Bundes­re­publik Deutschland sowie dem Verfall des eigenen Systems ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verlor diese Rhetorik an Wirkkraft. Seit der politi­schen Wende 1989 wurden zudem die bislang tabui­sierten sow­jetischen Verbrechen verstärkt zum Thema öffent­licher Debatten. Polen versteht sich seitdem als Opfer zweier aggres­siver Nachbarn – des Deutschen Reichs gleichwie der Sowjet­union. Dass Polen in der Kriegs- und Nachkriegszeit auch Täter sein konnten – beim Holocaust oder der Vertreibung der Deutschen – ist seit den 1990er Jahren ebenfalls zunehmend breit disku­tiert worden, gehört aber weiterhin nicht zum »Mainstream« der Erinnerungs­kultur :  Die Polen ziehen es vor, in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, als Opfer des Krieges zu gelten.

Gerade vor diesem Hinter­grund wird der erbit­terte Streit verständlich, der um das noch nicht eröffnete »Museum des Zweiten Weltkriegs« (Muzeum II Wojny) geführt wird. Es soll im symbol­träch­tigen Danzig entstehen und einen Gegenpol zum – gleich­falls noch nicht eröff­neten – Museum der Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung« in Berlin bilden. Die Vorgän­ger­re­gierung hatte die Insti­tution ins Leben gerufen und ein vergleichs­weise inter­na­tional ausge­rich­tetes Konzept vorgelegt, doch die neue Regierung fordert nun, dass bei dem im Museum verge­gen­wär­tigten Kriegs­ge­schehen die polnische Opfer-Rolle erheblich einsei­tiger darge­stellt und inter­pre­tiert wird. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg bleibt also selbst 25 Jahre nach dem Abschluss des deutsch-polnischen Nachbar­schafts­ver­trages und auch lange nach dem EU-Beitritt Polens politisch heftig umkämpft.

Der Krieg im Erlebnispark und auf der Westerplatte

Mit dem Aussterben der Erleb­nis­ge­ne­ration verändern sich das kollektive und das kultu­relle Gedächtnis tiefgreifend. Die Zeitzeugen sind nicht mehr Träger der Erinnerung, sondern Museen, Forschungs- und Dokumentations­zentren, studierte Fachleute und inter­es­sierte Laien, die sich beispiels­weise in Inter­net­foren austau­schen. Die Erinnerung wird insti­tu­tio­na­li­siert und musea­li­siert. Aufschluss­reich ist in dieser Hinsicht das beliebte »Bildungs- und Regionale Vermark­tungs­zentrum«, ein privater Erleb­nispark, der sich in Schönberg (Szymbark), Kreis Karthaus, am Turmberg befindet und dessen Haupt­at­traktion ein Haus ist, das auf dem Kopf steht. Hier wurden auch einige »Sehens­wür­dig­keiten« des Zweiten Weltkrieges nachgebaut :  ein sowje­ti­sches Internierungs­lager, ein Depor­ta­ti­onszug nach Sibirien sowie ein Parti­sa­nen­bunker. Dieses Arran­gement bietet eine Mischung aus Kitsch, Folklore und Geschichte.

Der begehbare Bunker soll eine Anlage des »Pomera­ni­schen Greifs« (Gryf Pomorski) darstellen, der wichtigsten Parti­sa­nen­or­ga­ni­sation im Danziger Raum. Wer in das Erdloch hinab­steigt, bekommt eine beein­dru­ckende Insze­nierung zu Gesicht :  fahles Licht, Holzpfeiler scheinen die Decke zu halten, Solda­ten­fi­guren sitzen in dem Raum, es gibt Waffen und Ausstattung. Auf Knopf­druck ertönen Schüsse und Grana­ten­ex­plo­sionen. Der Bunker ist eine der größten Attrak­tionen des Parks und beim Publikum, vor allem auch bei Kindern, sehr beliebt. Er spiegelt die moderne, folklo­ris­tische Kriegs­er­in­nerung in Polen wider, in dem der Krieg als eine Mischung aus gefähr­lichem Abenteuer und Wildem Westen erscheint.

Derartige Museen sind heute für die Kriegs­er­in­nerung von größerer Bedeutung als histo­rische Orte wie die vielen kleinen Gedenk­stätten für die Opfer der NS-Verbrechen von 1939. Das Gedächtnis fokus­siert sich jetzt insgesamt eher auf wenige »zentrale« symbol­trächtige Erinne­rungsorte. Im Weich­selland sind dies neben Stutthof vor allem noch Fordon und Piasnitz. Eine in Bezug auf das Jahr 1939 stark anwach­sende Bedeutung gewinnt seit einiger Zeit zudem die Wester­platte. Die dortige Gedenk­stätte wird heute von vielen Menschen und gerade auch von Schul­klassen besucht. Handelt es sich doch um einen wichtigen – und das ist entscheidend – positiven Erinne­rungsort. Zwar haben die polni­schen Soldaten ihren Kampf hier im September 1939 verloren, aber das ist neben­sächlich. Es geht um die symbo­lische Qualität des Ortes, den das Schlacht­schiff »Schleswig-Holstein« am 1. September 1939 angegriffen hat. In der polni­schen Erinnerungs­kultur ist die Wester­platte erstens ein eindeutig polni­scher Ort (als hätte er 1939 in Polen gelegen), und zweitens ist sie eine Chiffre der Aufop­ferung für das Vaterland und eines mytho­lo­gisch verklärten Heldenmuts – David gegen Goliath.

Die Wester­platte als »positiver« Erinne­rungsort ist für die heutigen Polen deshalb erheblich anspre­chender als die Gedenk­stätten, die an die 1939 began­genen deutschen Massaker an der polni­schen Bevöl­kerung gemahnen. Und hier befrie­digen die beiden »großen« Anlagen Fordon und Piasnitz den noch bestehenden Bedarf anscheinend zur Gänze :  Die kleinen Gedenk­stätten werden kaum noch beachtet und sind meistens in einem schlechten Zustand. Im besten Fall werden zu den jewei­ligen Jahres­tagen Kränze nieder­gelegt oder zumindest Grabkerzen angezündet. Doch das ist eine lediglich noch ritua­li­sierte Form der Tradi­ti­ons­pflege, die die breite Bevöl­kerung, und vor allem junge Menschen, längst nicht mehr erreicht.


Roland Borchers: Studium der Neueren Geschichte, Polonistik und Politik­wis­sen­schaft an der Freien Univer­sität und der Humboldt-Universität Berlin, während­dessen Studi­en­auf­ent­halte in Warschau und Wien; seit 2009 Wissen­schaft­licher Mitar­beiter am Lehrstuhl für Geschichte Ostmit­tel­eu­ropas an der FU Berlin.