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Museen im Land an der unteren Weichsel. Das Weichselwerder-Museum: »Es gibt viel zu entdecken«

Mit diesem Wahlspruch wirbt das Weichselwerder-Museum in Tiegenhof um Besucher. Was hat der polnische Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz mit dem Weichselwerder zu tun? Wer machte dieses Land zum »Garten Polens«? Warum ist es ein »Butterland«? Was ist »Stobbes Machandel«? Vor wem flüchtete die schöne Prinzessin Tiege? Antworten auf diese und viele andere Fragen findet der Besucher im kleinen Museum in Tiegenhof, das sich bemüht, mit Hilfe von Gegenständen und am Schicksal einzelner Menschen und Familien die Geschichte des Weichselwerders zu veranschaulichen und zu bewahren.

Das Museum ist ein wesent­licher Teil eines umfas­sen­deren Projekts, das den Namen »Histo­ri­sches Haus des Weich­sel­werders« trägt. Es hat seinen Sitz im renovierten Gebäude einer Käserei aus dem Anfang des 20. Jahrhun­derts, die früher dem Schweizer Leonhard Krieg gehörte, und bietet viele Attrak­tionen, von Gelän­de­spielen über Hochwas­ser­schutz­gruppen bis zu kulina­ri­schen Workshops. Das Museum, das auf eine Initiative des Tiegen­hofer Clubs zurückgeht, wurde 1993 eröffnet und ist ganzjährig dienstags bis sonntags für Besucher zugänglich. Die Dauer­aus­stellung erstreckt sich über drei Etagen.

Vom Winde verweht

Im Erdge­schoss gewährt eine Abteilung zur »Haupt­stadt des Weich­sel­werders« mit Postern Einblicke in die Geschichte von Tiegenhof seit der Stadt­gründung bis zu jener drama­ti­schen Wende, in deren Folge Tiegenhof zur polni­schen Stadt Nowy Dwór Gdański wurde. Die Geschichts­er­zählung wird durch Informa­tionstafeln vermittelt, die in ihren Konturen reizvoller Weise Silhou­etten von alten, bis heute erhalten geblie­benen städti­schen Gebäuden bieten. Dazu gehört auch der Tiegen­hofer Wasserturm aus dem Jahre 1909 – eines der ersten Gebäude in ganz Europa, bei denen eine Stahlbeton-Konstruktion einge­setzt wurde –, der nun aller­dings allmählich zur Ruine zu verfallen droht. (Davon können sich die Besucher selbst überzeugen, wenn sie sich nach dem Museums­besuch auf einen zehnmi­nü­tigen Spaziergang begeben.)

Die Aufmerk­samkeit des Betrachters wird aber vor allem von einem Bild gefesselt, das in der Abteilung über die ersten Anfänge der Stadt gezeigt wird. Das Gemälde bietet die einzige uns noch bekannte Darstellung des Tiegen­hofer Schlosses, – wobei freilich unwei­gerlich eine drama­tische Szene im Vorder­grund ins Auge fällt: Ein Türke ist gerade im Begriff, eine junge Christin zu enthaupten. Das Bild ist wohl eine Reminiszenz an drama­tische Gescheh­nisse aus dem Leben des jungen Adeligen Hans von Loitz, dessen Familie zur Zeit der Gescheh­nisse jene Ansiedlung besaß, die späterhin zum Städtchen Tiegenhof wurde. Hans wurde während seiner Pilger­fahrt ins Heilige Land zusammen mit anderen Pilgern von den Türken gefangen genommen und kam erst nach Bezahlung eines erheb­lichen Lösegeldes wieder frei. Während dieser Zeit schloss er Freund­schaft mit einem seiner Gefährten im Unglück, Reinhold Feldstedt; und diese Bindung wurden nach der glück­lichen Heimkehr durch Ehen zwischen Mitgliedern der beiden Familien noch gestärkt.

Innerhalb der Geschichte von Tiegenhof darf Stobbes Ma­chandel selbst­ver­ständ­licher Weise nicht fehlen – ein Wachol­der­schnaps, der seit 1776 von der Familie Stobbe herge­stellt wurde und der zur Zeit der Freien Stadt als ein »Danziger Natio­nal­ge­tränk« galt. In der Abteilung, die dieser Familie gewidmet ist, werden originale Flaschen, Gläser und Fässchen von Stobbe Machandel präsentiert.

Darüber hinaus beher­bergt das Museum einige Exponate, die mit konkreten histo­ri­schen, indivi­du­ellen Vorgängen verbunden sind und die Betrachter anzurühren vermögen. So verhält es sich mit den Schlüsseln zum Wohnhaus in der ehema­ligen Schloss­straße, das vor dem Krieg der Konditoren-Familie Korella gehörte. Die Schlüssel überstanden den Untergang der »Gustloff«, wurden von der Familie verwahrt und 2011 dann vom damaligen Besitzer, Heinrich Korella, dem Museum übergeben.

Eine tragische Liebes­ge­schichte ist mit einem sehr auffäl­ligen Ausstel­lungs­stück verbunden, bei dem es sich um einen großen pracht­vollen Schlitten handelt. Mit diesem Fahrzeug begab sich Teresa Świderska kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die Kirche von Marienau, in der ihre Trauung stattfand. Drei Jahre lang hatte die junge Frau, die ein Massaker an Wolhy­niern überlebt hatte, durch das Rote Kreuz ihren Verlobten Jan gesucht. Dann beugte sie sich dem Famili­en­druck und heiratete einen anderen Mann. Einen Tag nach ihrer Vermählung fand Jan, der ebenfalls nach ihr gesucht hatte, sie wieder; Teresa entschied sich jedoch, ihrem Gelübde vor Gott gegenüber mensch­lichen Emotionen den Vorzug zu geben. Erst als 75-jährige Witwe begegnete sie Jan bei einem Wolhynier-Treffen erneut. Als sie nun seine Bitte zurückwies, den Rest ihres Lebens gemeinsam mit ihm zu verbringen, beging er Selbstmord.

Eine nicht minder traurige Geschichte hängt letztlich mit einem handge­schrie­benen Gebetbuch zusammen, das der Mutter des polni­schen Dichters Czesław Miłosz gehörte. Als die Familie Miłosz gegen Ende des Krieges Litauen verließ und in den Weich­sel­werder kam, traf sie in einem Haus in Schönbaum, in der Nähe von Tiegenhof, auf eine alte, verlassene deutsche Frau, die an Typhus erkrankt war. Die Mutter des späteren Nobel­preis­trägers pflegte diese Frau, steckte sich dabei an und starb selbst an dieser Krankheit. – Diese drei Geschichten sind durchaus typisch für ein Land, in dem sich die Schicksale von Flücht­lingen und Neuan­kömm­lingen kreuzten und mitein­ander verflochten.

Neben diesen Relikten persön­licher Schicksale werden freilich auch Zeugnisse der Sozial- und Wirtschafts­ge­schichte gezeigt. Das heraus­ra­gende Exponat sind in diesem Kontext die Überreste der letzten, aus dem 18. Jahrhundert stammenden Entwäs­se­rungs­wind­mühle aus dem Dorf Ostaszewo (Schöneberg). Hier stellt sich – über die techni­schen Merkmale hinaus – ein unmit­tel­barer Zusam­menhang zu den Siedlern her, die aus dem Westen kamen und das Weich­sel­delta zu einer Kultur­land­schaft machten, die bald als die »kleinen Nieder­lande« bezeichnet wurde.

Bete und arbeite

Im ersten Oberge­schoss wendet sich die Ausstellung folge­richtig der Geschichte und den Schick­salen der frommen und arbeit­samen Menno­niten zu, die – in ihrer Heimat verfolgt – eine Zuflucht im Weich­sel­werder fanden und dieses Land zum »Garten Polens« machten. Die Konzeption und Einrichtung dieser Sektion (die mit nieder­län­di­schen, deutschen und polni­schen Texten versehen ist) wurde dem Museum vom Verein für polnisch-holländische Freund­schaft gestiftet. Die Menno­niten waren aber nicht nur Landwirte, sondern übten auch andere Berufe sehr erfolg­reich aus. Im 19. Jahrhundert stiegen sie des Öfteren zu Angehö­rigen der Bourgeoisie auf, für die dann jedoch stets – wie die Ausstellung beweist – nicht nur eine gute Zigarre und ein Gläschen Wein wichtig waren, sondern auch die gemein­schaft­liche Sorge um Witwen, Waisen, Kranke und Alte. Viele der Bewohner waren auch begabte Handwerker wie z. B. Schreiner – von solchen Fertig­keiten zeugen häufig nur noch kunst­volle, mit großer Sorgfalt angefer­tigte Holzkisten, die – mit zufällig zusam­men­ge­rafften Dokumenten, Erinne­rungs­stücken und anderen Gegen­ständen gefüllt – als Einziges auf die überstürzt angetretene Flucht mitge­nommen werden konnten.

Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Menno­niten im Weich­sel­werder bildet ihre Unter­stützung des Natio­nal­so­zia­lismus. Viele von ihnen ließen sich von der Hitler-Propaganda verführen, die sie als »Nieder­rhei­nische Pioniere im Osten« bezeichnete. Für polnische Besucher ist es sicherlich inter­essant, zu entdecken, dass Anna German (1936–1982), eine in ihrer Zeit äußerst berühmte Sängerin, die als »polnische Nachtigall« gerühmt wurde, menno­ni­tische Wurzeln hatte. Erwäh­nenswert ist schließlich auch ein kleines Lapidarium – Grabsteine, die aus alten Fried­höfen im Weich­sel­werder gerettet und ins Museum überführt worden sind.

Ein Dachboden voller Kuriositäten –

so lautet der Titel der Sektion im Dachge­schoss des Museums, die mit Absicht einem (vielleicht gering­fügig ordent­li­cheren) Dachboden in Großmutters Haus ähnelt, den man hemmungslos durch­stöbern darf. Gesammelt und »ausge­stellt« (bzw. gelagert) werden hier viele nicht mehr gebrauchte Gegen­stände, Werkzeuge, Gerät­schaften – nicht zuletzt Butter­ma­schinen und verwandte Utensilien, denn der ganze Weich­sel­werder riecht – nach Günter Grass – doch nach Butter, Quark und Käsereien. Etwas ältere Besucher werden sich dort, mögli­cher­weise mit einem Anflug von Melan­cholie, an alte polnische Fernseh­ap­parate der Marken »Neptun« und »Alga« erinnern oder nachdenklich das Büchlein mit Empfeh­lungen für »Ratio­na­li­sa­toren« oder andere Relikte des unter­ge­gan­genen Kommu­nismus mustern.

Joanna Szkol­nicka