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Zum Gedenken an Rupert Neudeck: Freibeuter der Menschlichkeit

Von Bernd Posselt

Am 31. Mai 2016 verließ uns mit dem heimat­ver­trie­benen Danziger Rupert Neudeck ein sperriger und unbequemer Mann, der weltweit unzäh­ligen Menschen das Leben rettete und ihnen, wann immer er konnte, eine neue Existenz ermög­lichte. Auf seltsame Weise war sein Leben in verschie­denen Phasen immer wieder mit dem Meer verbunden: Er verbrachte, 1939 geboren, seine ersten fünf Kinder­jahre an der Ostsee und wirkte stets, als sei er ihr soeben entstiegen. 1945 entging er bei der Flucht mit seiner Familie knapp dem Untergang der Wilhelm Gustloff, an deren Bord sie vergeblich zu gelangen trach­teten, gründete 1979 mit Heinrich Böll das Komitee »Ein Schiff für Vietnam« für Hilfs­ak­tionen im Südchi­ne­si­schen Meer und starb während der aktuellen Flücht­lings­welle über Ägäis und Mittelmeer, die ihn bis zuletzt umtrieb.

Auch sein sonstiges Leben war von Stürmen geprägt. Er begann und beendete vorzeitig etliche Studien, schloß sich dem Jesui­ten­orden an und verließ ihn wieder, promo­vierte über die »politische Ethik bei Jean-Paul Sartre und Albert Camus«, versuchte sich erfolg­reich als Journalist bei allen möglichen Medien, um schließlich zum Freibeuter der Humanität zu werden.

Ans Licht der breiten Öffent­lichkeit trat er, als er aus »Ein Schiff für Vietnam« die weithin berühmte Hilfs­or­ga­ni­sation »Komitee Cap Anamur / Deutsche Notärzte e. V.« entwi­ckelte. Damals war das Südchi­ne­sische Meer voll von so genannten »Boat People«, Vietna­mesen, die sich aus verzwei­felter Not in Nußschalen auf den Ozean wagten und dort tausendfach ertranken. Der von Neudeck erworbene Frachter »Cap Anamur« nahm insgesamt 10.375 dieser Menschen auf und brachte sie nach Deutschland, was dort heftig umstritten war. Das Schiff blieb dennoch jahrzehn­telang rettend im Einsatz, und zwar auf nahezu allen Ozeanen.

So wichtig dem Philo­sophen und Theologen tätige Nächs­ten­liebe war, so sehr engagierte er sich auch politisch und publi­zis­tisch, wobei er stets heftig polari­sierte und immer wieder mit humani­tärem Jähzorn übers Ziel hinaus­schoß. Segens­reich wirkte er als Beirats­mit­glied der von dem aus Mähren vertrie­benen Tilman Zülch aufge­bauten »Gesell­schaft für bedrohte Völker«. Nahezu pionierhaft war sein Engagement, den westlichen Gesell­schaften Ängste vor dem Islam zu nehmen und Brücken zu Muslimen zu schlagen. Man warf ihm aller­dings bald vor, islamis­tische Gefahren zu übersehen oder schön­zu­reden. Vollends schieden sich die Geister an ihm, als er begann, die Paläs­ti­nen­ser­frage aufzu­greifen, und harsch mit der israe­li­schen Siedlungs­po­litik ins Gericht ging. Seine Einsei­tigkeit bei diesem Thema und die Radika­lität, mit der er urteilte, nahm ihm in den letzten Lebens­jahren einen Teil seines Nimbus.

Rupert Neudeck war ein aufrechter Kämpfer gegen Flucht und Vertreibung und ein undog­ma­ti­scher Linker, der immer nur eines sein wollte: »Nie mehr feige!« Da­rin sah er die Quint­essenz der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­derts, die in sein eigenes Vertrei­bungs­schicksal mündete. Der lebens­lange Rebell tat sich schwer mit allen etablierten Organi­sa­tionen, nicht zuletzt auch mit denen der deutschen Heimat­ver­trie­benen. Umso größere Wirkung hatte es, als er sich zu dem von Erika Steinbach und Peter Glotz initi­ierten »Zentrum gegen Vertrei­bungen« bekannte, für dessen Franz-Werfel-Menschenrechtspreis er sich aktiv einbrachte. Dass jetzt in Berlin das Dokumen­ta­ti­ons­zentrum der Bundes­stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung entsteht, ist auch sein Verdienst.

Spuren seines Wirkens finden sich unter anderem in Südost­asien, Afgha­nistan, Äthiopien, Somalia, dem Südsudan und Kurdistan. 2011 verlieh ihm die Univer­sität Prizren wegen seiner Unter­stützung für den Kosovo ihre Ehren­dok­tor­würde. Sein Lebenswerk ist recht typisch für viele, die als Kind vertrieben wurden, oder deren Nachkommen. Vor knapp zehn Jahren besuchte ein Bundes­mi­nister das Europäische Parlament in Straßburg, um die Menschen­rechts­experten aller deutschen Parteien dort zu treffen. Er fragte sie leicht ironisch, warum sie sich mit so etwas Brotlosem befaßten wie mit Menschen­rechten. Als jeder geant­wortet hatte, stellte sich heraus: Eine war eine Kurdin, die anderen nachge­borene deutsche Heimat­ver­triebene. Peter Glotz hat in einem seiner Bücher sehr eindrucksvoll geschildert, wie er angesichts der Massen­ver­trei­bungen 1999 im Kosovo plötzlich wieder Kindheits­bilder von der Vertreibung aus Eger vor seinem inneren Auge gesehen und dieses Thema darauf in den Mittel­punkt seines restlichen Lebens gestellt habe. Auch Rupert Neudeck war kein klassi­scher Vertrie­be­nen­ak­tivist. Er hat aber aus dem Schicksal seiner Kindheit gemacht, was ihm, dem Umbequemen und Umstrit­tenen, sein Gewissen aufgab.


Bernd Posselt ist Präsident der Paneuropa-Union Deutschland und Sprecher der Sudeten­deut­schen Volks­gruppe. Von 1994 bis 2014 gehörte er als Abgeord­neter der CSU dem Europäi­schen Parlament an.