Von Vincent Regente
Seit Februar 2016 hat die Bundesstiftung Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (SFVV) mit Gundula Bavendamm eine neue Direktorin. Damit ist nach langen und zähen Personaldebatten ein weiterer wichtiger Schritt in die Richtung einer Realisierung des seit langem von den deutschen Vertriebenen geforderten »Sichtbaren Zeichens« getan. 2018 soll – so die aktuelle Planung – im »Deutschlandhaus« in Berlin-Kreuzberg die Dauerausstellung eröffnet werden. Angesichts dieses Neueinsatzes erscheint es lohnend, die bisher vollzogenen Entwicklungen in einer genaueren Analyse Revue passieren zu lassen.
Seit ihrer Errichtung 2008 verfolgt die SFVV den Zweck, »im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungs-politik und ihrer Folgen wachzuhalten«. Ihre konzeptionelle Ausrichtung und bisherige Tätigkeit war und ist in Politik, Medien und Wissenschaft von kontroversen Debatten über den sachgerechten, ausgewogenen Umgang mit der Thematik sowie über Fragen der Musealisierung und Dokumentation des historischen Geschehens verbunden.
Am Anfang stand das Zentrum gegen Vertreibungen
1999 schlug die damals neu gewählte Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach (CDU), gemeinsam mit dem sudentendeutschen Sozialdemokraten Peter Glotz (1939–2005) vor, an zentraler Stelle in Berlin einen nationalen Gedenkort zur Erinnerung an Flucht und Vertreibung der Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu schaffen. Zu diesem Zweck gründete der BdV 2000 die Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen (ZgV). Während der BdV mit seinem Plan zur Errichtung eines auf die deutschen Vertriebenen ausgerichteten Gedenkorts in Berlin von großen Teilen der CDU/CSU unterstützt wurde, stand die SPD-geführte Bundesregierung diesem Ansatz eher kritisch gegenüber.
Das Vorhaben wurde von der Öffentlichkeit im In- und Ausland kontrovers diskutiert. Unter anderem wurde die Sorge geäußert, dass der zentralen Bedeutung der Erinnerung an den Holocaust in der Bundesrepublik ein neues Opfernarrativ gegenübergestellt werden solle und der Holocaust damit relativiert werden könnte. Grundsätzlich bestanden vor allem in Polen, aber auch in der Tschechischen Republik Vorbehalte gegen die Einrichtung eines zentralen deutschen Erinnerungsortes zum Themenkomplex der Vertreibung in Berlin. Sie richteten sich zunächst gegen das ZgV und später auch gegen die SFVV. Befürchtet wurden insbesondere eine Entkontextualisierung des Vertreibungsgeschehens, die einseitige Betonung der deutschen Opferperspektive, eine Umdeutung von Täter- und Opferrollen im Zweiten Weltkrieg sowie eine mangelnde Thematisierung der Leiderfahrungen der von deutscher Besatzungs- und Vernichtungspolitik betroffenen Völker.
Im Zuge der Diskussion wurde zunächst die Konzeption des ZgV »europäisiert«: So wurde in die zu schaffende Gedenkinstitution ein historischer Überblick über Vertreibungen in Europa integriert, was dem Selbstverständnis des BdV als Opfergruppe entsprach. Allerdings schien dies den Vorwurf zu bestätigen, dass die deutschen Vertriebenen im ZgV den Opfern der NS-Verbrechen gleichgestellt würden, was wiederum einer Nivellierung der deutschen Kriegsschuld Vorschub leistete. Seit 2006 führt das ZgV nun deutschlandweit Veranstaltungen durch. Die Vorsitzende Erika Steinbach hat diese Initiative weiterhin als treibende Kraft in der Diskussion über die Erinnerung an Flucht und Vertreibung der Deutschen – gerade auch mit Blick auf die Tätigkeit der SFVV – gesehen, sodass die Arbeit des ZgV auch nach der Errichtung der neuen Stiftung bis heute fortgesetzt wird.
Auf dem Weg zur Bundesstiftung
Die nach der Bundestagswahl 2005 gebildete Große Koalition aus CDU/CSU und SPD nahm in ihren Koalitionsvertrag das Vorhaben auf, »im Geiste der Versöhnung auch in Berlin ein sichtbares Zeichen« zu setzen, um »an das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibung für immer zu ächten«. Dabei handelte es sich um einen Kompromiss zwischen der das BdV-Konzept unterstützenden CDU/CSU und der die Netzwerk-Initiative unterstützenden SPD. Im März 2008 veröffentlichte die Bundesregierung eine erste Konzeption für das »Sichtbare Zeichen«, die den konzeptionellen und organisatorischen Rahmen absteckte, indem Dauer- und Wechsel-ausstellungen, das Dokumentations- und Informationszentrum sowie die Durchführung von Veranstaltungen und die internationale Vernetzung vorgegeben wurden.
2008 verabschiedete der Deutsche Bundestag dann das Gesetz zur Errichtung der SFVV mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung durch Die Linke. Das am 30. 12. 2008 in Kraft getretene Gesetz bestimmt das für diesen Zweck selbst in eine rechtsfähige bundesunmittelbare Stiftung umgewandelte Deutsche Historische Museum (DHM) zum Träger der unselbstständigen Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung.
Die Unselbstständigkeit der Stiftung gewährt dabei eine gewisse Kontrollfunktion des DHM. Ein aus 21 Persönlichkeiten bestehender Stiftungsrat soll durch seine breite gesellschaftliche Aufstellung das Erreichen der Stiftungsziele sichern. Der bis zu 15 Mitglieder umfassende »wissenschaftliche Beraterkreis« soll dazu beitragen, dass »die historischen Ereignisse ausgewogen und geschichtswissenschaftlich fundiert sowie lebendig, umfassend und anschaulich« dargestellt werden. Durch eine internationale Zusammensetzung des Beraterkreises, unter anderem auch mit Vertretern aus Polen und Tschechien, sollte eine multiperspektivische Gestaltung der Stiftungsarbeit gewährleistet werden.
Im Jahre 2009 wurde der Zeithistoriker Manfred Kittel zum Gründungsdirektor berufen und es konstituierte sich der zunächst aus 13, nach der Gesetzesänderung 2010 aus 21 Mitgliedern bestehende Stiftungsrat, dessen Mitglieder – sechs davon Vertreter des BdV – von den jeweiligen Institutionen entsandt und vom Bundestag bestätigt werden mussten. Ebenso wurde der wissenschaftliche Beraterkreis von zunächst neun auf bis zu 15 Mitglieder erweitert. Nach Rücktritten mehrerer Mitglieder im Sommer 2015 steht eine Neubesetzung derzeit aus.
Das Projekt nimmt Gestalt an
Die Arbeitsschwerpunkte der SFVV sowie die Überlegungen zum Dokumentations- und Informationszentrum sind ebenso wie die Fragen, mit welchen Inhalten sich die entstehende Dauerausstellung auseinandersetzen und in welcher Form dies geschehen soll, in dem von Manfred Kittel vorgelegten und vom Stiftungsrat am 25. Juni 2012 verabschiedeten Konzeptionspapier skizziert.
Deutlich erkennbar ist in der Konzeption neben der Schwerpunktsetzung auf den Zweiten Weltkrieg die starke Berücksichtigung der Flucht und Vertreibung der Deutschen sowie der Nachkriegszeit. Es sollte ein möglichst umfassender chronologischer Ansatz realisiert werden, der die Vertreibung der Deutschen »eingebettet in den Kontext europäischer Vertreibungen im 20. Jahrhundert« darstellt sowie einen allgemeinen Überblick »über mehr als dreißig vertriebene ethnische Gruppen« in Europa vermittelt. Die Entstehung des ethnischen Nationalismus ebenso wie die Minderheitenproblematiken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts werden als mögliche Grundlagen von Flucht und Vertreibung thematisiert, ohne dass diese Zusammenhänge als zwangsläufige Entwicklung dargestellt wird. Im Rahmen von Sonderausstellungen soll auf Fallbeispiele aus Geschichte und Gegenwart des weiteren Themenfeldes eingegangen werden. Zusätzlich zur Darstellung der Konfliktgeschichte sollen Wege der Verständigung und Versöhnung aufgezeigt werden.
Seit 2010 veranstaltet die SFVV Vorlesungen, Symposien, Tagungen, Zeitzeugengespräche, Buchvorstellungen und Filmvorführungen, u. a. in Kooperation mit der Stiftung Topographie des Terrors, der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas sowie der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. Ebenfalls widmet man sich politisch aktuellen Themen wie der Situation der Krim-Tataren während der Krimkrise im Jahre 2014. Die SFVV beteiligte sich an der 7. Berlin Biennale 2012 und trat 2013/14 mit einer Open-Air-Ausstellung vor dem Deutschlandhaus und 2014/15 mit der Wanderausstellung zu globalen Zwangsmigrationen im Verbund mit einer Werkstattausstellung im Rahmen einer Sonderausstellung im DHM an die Öffentlichkeit.
Kontroversen und Diskussionen
Parallel zur wissenschaftlichen Arbeit der SFVV waren die zurückliegenden Jahre jedoch auch nachdrücklich von fortwährenden politischen Konflikten und ideologischen Grabenkämpfen geprägt. Nach den Bundestagswahlen im Herbst 2009 spitzte sich der Konflikt um die Besetzung der dem BdV zustehenden Sitze im Stiftungsrat der SFVV zu. Wie schon die SPD in der vorherigen Regierung lehnte die nun mitregierende FDP Erika Steinbach als Mitglied des Stiftungsrates ab, da besonders in Polen durch ihren Einfluss eine einseitige Fokussierung auf eine deutsche Opfergeschichte befürchtet würde. Die sich über Monate hinziehende Kontroverse führte dazu, dass sich einige Mitglieder aus dem Stiftungsrat und dem wissenschaftlichen Beraterkreis zurückzogen. Jedoch sollte sich die Verweigerung eines schnellen Kompromisses durch den BdV letztlich für diesen auszahlen, da er im Frühjahr 2010 für den Verzicht Steinbachs auf einen Sitz im Stiftungsrat eine Änderung des Stiftungsgesetzes erreichen konnte: Im vergrößerten Stiftungsrat wurden der Anteil der BdV-Mitglieder von drei auf sechs erhöht sowie das Budget und die Ausstellungsfläche erweitert.
Das von Kittel entworfene Eckpunktepapier vom 25. 10. 2010 wurde in der Geschichtswissenschaft kontrovers diskutiert. Die Kritik – mangelhafte Kontextualisierung des Vertreibungsgeschehens im Hinblick auf die NS-Verbrechen sowie Fokussierung auf die deutschen Opfer – ähnelte weithin derjenigen gegenüber dem ZgV. Bereits im Vorfeld wurde von einer Historikergruppe um Martin Schulze Wessel für die Stiftung ein alternatives Konzept vorgestellt, welches erneut die Idee eines kooperativen Netzwerkes aufgriff. Ein wesentlicher Kritikpunkt war, dass die SFVV die Vertreibung an zentraler Stelle in die Erinnerungskultur Deutschlands integrieren wolle. Im Ergebnis wurde das auf Basis des Eckpunktepapiers weiterentwickelte Konzeptionspapier von Kittel allerdings ohne größere Diskussion am 25. 6. 2012 vom Stiftungsrat einstimmig beschlossen.
Der jüngste Konflikt drehte sich um die Ausstellungen der SFVV im Deutschen Historischen Museum. Sowohl die »Werkstattausstellung« der Stiftung als auch die von der Europäischen Union geförderte Wanderausstellung »Twice a Stranger« riefen inhaltliche Kritik hervor. Als problematisch bewertet wurden ein einseitiger Schwerpunkt auf der Zwangsmigration der Deutschen, falsche Opferzahlen und fehlerhafte Illustrationen sowie vor allem eine unzureichende Kontextualisierung in Bezug auf den von Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkrieg.
Wie geht es weiter?
Dem im Dezember 2014 erfolgten Rücktritt Kittels als Direktor der SFVV schloss sich eine längere, bis zur Berufung von Gundula Bavendamm, der bisherigen Leiterin des AlliiertenMuseums, Berlin, dauernde Interimsphase an. Zwischenzeitlich hatte die letztlich nicht erfolgreiche Nominierung von Winfrid Halder (Direktor der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus. Deutsch-osteuropäisches Forum, Düsseldorf) zum neuen Direktor zu Konflikten mit und innerhalb des wissenschaftlichen Beraterkreises und zu weiteren Austritten aus diesem Gremium geführt, sodass die Interimsführung der SFVV bis zum März 2016 dem Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin, übergeben worden war.
Die SFVV steht nun weiterhin vor der Herausforderung, in einem komplexen innen- und außenpolitischen Umfeld eine ausgewogene, aber keineswegs zu abgeschliffene – jedem Konflikt aus dem Weg gehende – Dauerausstellung zu schaffen, die für die Vertriebenen und ihre Nachfahren ein Ort der Erinnerung, für die heutige Generation ein Ort des Lernens über historische, immer noch weiterwirkende Zusammenhänge sowie für unsere Nachbarn ein akzeptabler und respektierter Ort der deutschen und europäischen Erinnerungskultur sein kann.
Ein ausführlicher Beitrag des Verfassers zur SFVV erscheint in Kürze im Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa.
Vincent Regente hat Geschichte, Sozialwissenschaften und Public History in Berlin und Wien studiert; nach seinem Master-Examen promoviert er seit 2014 an der Freien Universität Berlin über ein komparatives Thema zur deutschen, polnischen und tschechischen Erinnerungskultur. Im November 2014 wurde er zum Stellvertretenden Vorsitzenden der Kulturstiftung Westpreußen gewählt.