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Titel von WP 3 2025, Westpreußen, Ansicht von Danzig im Sonnenuntergang, Vordergrund Bäume, Mittelgrund Kirchgebäude, Hintergrund Himmel und Industrieanlagen

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Im Tanz die Schwerkraft überwinden

Das Akrobatische Tanz-Theater »Mira-Art« aus Gdingen


Tanz, Ballett, Luftakro­batik, Licht­kunst, Musik, Sound, Theater und Multimedia-Show – diese vielfäl­tigen Elemente verei­nigen sich in den außer­ge­wöhn­lichen Darbie­tungen des Gdingener Ensembles Mira-Art. Seit über zwanzig Jahren begeistert diese Kompagnie ihr Publikum und sucht nach immer neuen Ausdrucks­formen des künst­le­ri­schen Gestaltens.

Neue Dimensionen des Tanztheaters

Die Ursprünge des Mira-Art reichen bis ins Jahr 1999 zurück. Seine Gründer sind Mirosława Kister, eine Ballett­so­listin und Choreo­grafin vom Gdingener Musik­theater, und Krzysztof Okoń, ein Theater­schau­spieler, der bei Musical-Produktionen von Jesus Christ Superstar und West Side Story mitge­wirkt hatte. Angesichts des wachsenden Inter­esses an innova­tiven Verknüp­fungen von künst­le­ri­schen Medien beschlossen die beiden, eine eigene experi­men­telle Künst­ler­gruppe zu gründen. Zunächst konzen­trierten sie sich auf den Tanz in seinen mannig­fachen Erschei­nungs­formen – vom klassi­schen Ballett über den Ausdruckstanz bis zu den daran anschlie­ßenden Spiel­arten des Modern Dance. Die Ambitionen richteten sich jedoch bald darauf, den verfüg­baren Raum des Theaters sowie das Reper­toire der möglichen Bewegungen deutlich zu erweitern: So begann die abenteu­er­liche Reise des Teams in das Gebiet der Luftakrobatik.

Anfang der 2000er Jahre war dieser Ansatz in Polen noch unerschlossen. Die Gruppe war deshalb gezwungen, sich Anregungen aus fremd­spra­chigen Instruk­tionen und Erfah­rungs­be­richten zu holen, musste sich vor allem aber mit den Bewegungen und Hilfs­mitteln durch eigenes Auspro­bieren bekannt­machen und dabei Problem­lö­sungen nach dem Prinzip Learning by Doing erarbeiten. Eine besondere Heraus­for­derung bestand darin, die sport­lichen Kompo­nenten der Akrobatik mit Elementen des Tanztheaters zu verschmelzen. Die meisten Mitglieder der Gruppe hatten zuvor auf hohem Niveau Kunst­turnen ausgeübt und bemühten sich nun, ihre Kraft, Beweg­lichkeit, Balance und Koordi­nation stärker dem Ausdruck einer indivi­du­ellen Persön­lichkeit dienstbar zu machen und sich selbst als Akteure bzw. Aktricen innerhalb eines Bühnen­ge­schehens zu verstehen. 

In der prakti­schen Arbeit begannen die Tänzer zunächst in niedriger Höhe mit langen, stoff­ar­tigen Tüchern, die an zwei Punkten befestigt werden (Aerial Hammock) und – ähnlich einer Hänge­matte – eine Schlaufe bilden. Auf diese Art konnten erste, einfache Bewegungs­ab­läufe arran­giert werden, aus deren Kombi­nation sich bereits choreo­gra­phische Muster entwi­ckeln ließen. Diese Phase wurde bald überwunden und die Fähig­keiten der Tänze­rinnen und Tänzer verbes­serten sich zusehends. Zugleich erwei­terte sich der Spiel-Raum in immer größere Höhen; und auch die Art der verwen­deten Akroba­tik­geräte diffe­ren­zierte sich aus: hinzu­kamen z. B. Luftringe (Aerial Hoops), Trapeze (­Aerial Trapeze) und Luftakro­ba­tik­tücher (Aerial Silks). 

Als die einzelnen choreo­gra­phi­schen Einheiten schließlich zu geschlos­senen Geschichten, zu einer kohärenten Bühnen­handlung, zusam­men­wuchsen, war die Zeit gekommen, in der das selbst­ständig gewordene Bühnen­projekt einen eigenen Namen beanspruchen konnte. Von nun an bezeichnete sich das Ensemble selbst­be­wusst als Akroba­ti­sches Tanz-Theater »­Mira-Art« (Akroba­tyczny Teatr Tańca ­Mira-Art), wobei »Mira«, als Kurzform der weiblichen Vornamen Miranda, Mirabella oder – wie im Falle der Mitgrün­derin – Mirosława, offen­sichtlich auf das latei­nische Wort mirabilis verweist und Assozia­tionen an das Bedeu­tungsfeld des Wunder­baren oder des Bewunderns- bzw. Staunens­werten hervorruft.

Profile eines Theaters ohne eigene Spielstätte

Mira-Art ist ein ungewöhn­liches Theater, denn es verfügt über keine eigene Bühne. Statt­dessen reisen die Künstler zu Partnern im ganzen Land, um sich vor Ort von jewei­ligen Konzep­tionen inspi­rieren zu lassen und im kreativen Dialog Möglich­keiten eines gemein­samen Vorhabens zu venti­lieren. Auf diesem Wege haben sich bereits etliche Synergien ergeben, darunter auch Koope­ra­tionen mit Großen des polni­schen Theaters wie Jerzy Limon, dem (2021 verstor­benen) Litera­tur­wis­sen­schaftler, Übersetzer sowie Gründer und ersten künst­le­ri­schen Direktor des Danziger Shakespeare-Theaters oder dem vielfach preis­ge­krönten Schau­spieler und Theater­re­gisseur Wojciech Kościelniak.

Neben diesem partner­schaft­lichen Modell konzi­piert die Truppe ihre Stücke freilich auch gänzlich autonom. Häufig entsteht solch eine Show aus einem bestimmten Anlass heraus wie zum Beispiel für das vielge­staltige Magic-Malbork-Festival, das jährlich anspruchs­volle Perfor­mances von Straßen­künstlern, Musikern, Schau­spielern sowie Boden- und Luftakro­baten bietet. Auch bei einer Reihe anderer sport­licher und kultu­reller Veran­stal­tungen tritt Mira-Art mit eigenen Beiträgen auf. Besonders bemer­kenswert waren bislang die Auffüh­rungen für Papst Franziskus im Krakauer Błonia-Park oder für den Scheich von Dubai in dessen Palast; in Erinnerung geblieben ist aber auch das außer­ge­wöhn­liche Spektakel, das 2014 bei der Eröffnung des Danziger Shakespeare-Theaters insze­niert wurde, als die Tänzer mit Hilfe eines Krans durch das geöffnete Dach herab­schwebten und Kostproben ihrer Kunst über den Köpfen des Premie­ren­pu­blikums gaben. 

Seit längerem ist das Akroba­tische Tanztheater aus Gdingen auch inter­na­tional bekannt­ge­worden. So wurde es beispiels­weise zum Techfest im Mumbai, einem renom­mierten, jährlich statt­fin­denden Wissenschafts- und Techno­lo­gie­fes­tival, einge­laden und gastierte – ebenfalls auf dem indischen Subkon­tinent – beim IAA World Congress in Cochin (Kochi); oder es betei­ligte sich auf eine höchst origi­nelle Art an den Festver­an­stal­tungen zum 100. Jubiläum des Wieder­erstehens von Polens Eigen­staat­lichkeit im Jahre 2018: Auf der Reise des legen­dären Segel­schul­schiffs Dar Pomorza um die Welt schlossen sich Teammit­glieder der Crew an und machten das Deck, die Masten und die Takelage zum Bühnenraum, den sie in Häfen wie Bordeaux, Cartagena oder Singapur artis­tisch bespielten.

Diesseits solcher exzep­tio­nellen Engage­ments, im täglichen Betrieb, arbeitet das Mira-Art vor allem mit den Theatern der Dreistadt zusammen. Gemeinsam mit der Musik­bühne in Gdingen gestaltet es die jährlichen Silves­ter­kon­zerte mit und beteiligt sich regel­mäßig an den Auffüh­rungen der Produk­tionen Wiedźmin [Der Hexer], Notre Dame de Paris und Pan Disney zaprasza [Herr Disney lädt ein]. Im Shakespeare-Theater in Danzig hat das erste eigene abend­fül­lende Bühnenwerk, die zauber­hafte Geschichte von Sindbads Abenteuer, die ihre Premiere im Dezember 2012 in Dubai erlebt hatte, schon unzählige Male auf dem Programm gestanden. 

Als wichtiger Baustein des Reper­toires hat sich in den letzten Jahren das von Mira Kister und Krzysztof Okoń verfasste und insze­nierte Stück Four Seasons [Die vier Jahres­zeiten] erwiesen. Die Urauf­führung fand 2019 im Gdingener Musik­theater statt. Den thema­ti­schen Vorwurf bildet die generelle Lebens­ge­schichte einer Frau; deren Verlauf ist allego­risch mit den vier Teilen von Antonio Vivaldis »Jahres­zeiten« verschränkt: Vom Mysterium der Empfängnis bis zum Tod entfalten die Episoden Erleb­nisse in der Kindheit, erste Gefühle, Konflikte, Liebe, Enttäu­schungen, Mutter­schaft, Arbeit und Erfah­rungen am Lebens­abend. Die Szenen­bilder hat die renom­mierte Künst­lerin und Bildhauerin Katarzyna Józefowicz entworfen; und die Musik schuf Artur Guza, ein im Bereich des Jazz und der Bühnen­musik ausge­wie­sener Spezialist für Kompo­sition und Arran­gement, der sich bei der Ausar­beitung des Sound­tracks gleicher­maßen von den Stillagen der Gegen­warts­musik wie von Vivaldis vier Violin­kon­zerten, die den berühmten »Jahreszeiten«-Zyklus konsti­tu­ieren, hat inspi­rieren lassen.

Die Vielfäl­tigkeit der Vorhaben, an denen Mira-Art sich zu betei­ligen vermag, zeigt gegen­wärtig das Projekt Chełmoński Dźwiękiem Malowane [Chełmoński mit Klängen gemalt], das von der Stiftung Koncept Kultura entwi­ckelt worden ist und das Ziel verfolgt, das Werk von Józef Marian Chełmoński (1849–1914), einem der bedeu­tendsten polni­schen Maler des Realismus, multi­medial zu erschließen und zu vermitteln. Neben einer Virtual-Reality-Präsen­tation und einer wechsel­sei­tigen Verschränkung von Bild und Musik steht eine spekta­kuläre, immersive »Aufführung« von Gemälden des Meisters, die filmisch durch Stop-Motion-Animation zum Leben erweckt und dabei vertiefend von Musik, Geräu­schen, Natur­sounds sowie – dank der Mitwirkung von Mira-Art – von Tanz und Luftakro­batik inter­pre­tiert werden. Diese faszi­nie­rende Reise in Chełmońskis Welt der Natur­bilder und der Volks­kultur wird schließlich noch abgerundet durch Partien der bekannten Schau­spie­lerin Danuta Stenka. Sie tritt in der Rolle der Malerin Pia Górska auf, die als Freundin Chełmońskis aus der Innen­per­spektive heraus aufschluss­reiche und heitere Episoden und Anekdoten zu erzählen weiß.

Grundlegende Merkmale eines hybriden Tanztheaters

Im Laufe der mehr als zweieinhalb Jahrzehnte seines Bestehens haben sich Grund­struk­turen der künst­le­ri­schen Arbeit heraus­kris­tal­li­siert, die einer­seits eine hohe Ähnlichkeit mit den Konzep­tionen des Bühnen­tanzes – und im engeren Sinne des Balletts – zu erkennen geben, anderer­seits aber auch spezi­fische Anfor­de­rungen und Entwick­lungs­mög­lich­keiten des akroba­ti­schen Bewegungs­theaters deutlich werden lassen. 

Beiden Kunst­formen gemeinsam ist zunächst die Basis­ent­scheidung zwischen einem »abstrakten« Tanz, der allein Figuren, Gruppie­rungen und choreo­gra­phische Prozesse präsen­tiert, oder der inhalt­lichen Orien­tierung an einem »Plot«, einer Geschichte, die (wie beim tradi­tio­nellen Ballett) in einem Libretto oder (wie bei neueren, hybriden Spektakeln) in einer Art Drehbuch oder in einem Story­board festge­halten sind. Dabei bleibt aller­dings, und auch in dieser Eigen­schaft stimmen beide Spiel­arten des Tanztheaters überein, die Sprache weitest­gehend als Kunst­mittel ausge­schlossen: Das Tanztheater verzichtet auf feinere gedank­liche Diffe­ren­zie­rungen, die in einem Dialog entfaltet werden könnten, und arbeitet vielmehr mit Symbolen, Metaphern oder Allegorien, die für die Zuschaue­rinnen und Zuschauer relativ leicht zu entschlüsseln sind. Bei der abend­fül­lenden Produktion »Sindbads Abenteuer«, die zudem auf ein kindliches Publikum hin zugeschnitten ist, hat Mira-Art dieses Prinzip übrigens ein einziges Mal durch­brochen. (Die Äußerungen der Rollen­träger sind dabei aber wohlge­merkt von Synchron­stimmen übernommen und technisch einge­spielt worden.) 

Ein gemein­sames Feld bietet sicherlich auch die strikte Körper­be­herr­schung, die jeweils aller­dings kaum als Selbst­zweck hervor­treten darf, sondern stets durch Mimik und Gestik drama­tur­gisch plausibel in das Bühnen­ge­schehen einge­bunden sein sollte. An diesem Punkt aber zeigt sich zugleich ein gradu­eller Unter­schied, denn die Integration der Luftakro­batik setzt neben den mannig­fachen anspruchs­vollen Elementen des Tanztheaters die Beherr­schung eines weiteren Reper­toires von kompli­zierten kraftvoll-dynamischen Bewegungen und artifi­zi­ellen Posen voraus. Damit verbunden sind ein zusätz­liches inten­sives Kraft­training sowie die perma­nente Schulung der Koordi­na­ti­ons­fä­higkeit, die bei Akrobaten geradezu im Wortsinne als lebens­not­wendig bezeichnet werden darf.

Eine weitere Spezifik der Theater­kunst von Mira-Art ist darin zu entdecken, dass sich die Kompagnie beständig um die Weiter­ent­wicklung ihrer szeni­schen Darstel­lungs­mittel bemüht und daran arbeitet, Alltags­ge­gen­stände wie Stühle oder Fahrräder zu nutzen oder eigene Konstruk­tionen zu ersinnen. So wird beispiels­weise in den »Vier Jahres­zeiten« ein Liebes­spiel in luftiger Höhe gezeigt, in der eine herab­hän­gende Metall­plattform als Bett fungiert; in einer anderen Szene wird eine Spirale als Gerät verwendet, um die stete Repetition des Lebens­zyklus anschaulich zu machen. Die Arbeit mit derar­tigen neuen Elementen erfordert viele Testläufe, bevor die Akrobaten sie tatsächlich bühnen­wirksam einsetzen können.

Zu den beson­deren Merkmalen des komplexen und voraus­set­zungs­reichen akroba­ti­schen Tanz-Theaters dürfte nicht zuletzt gehören, dass das Ensemble zum einen aus einem festen Kern von Mitgliedern besteht, die schon über viele Jahre zusam­men­ar­beiten, und dass dabei zum anderen für längere Zeit der Wunsch virulent geblieben ist, sich kompe­titiv auch jenseits des Sports in den »neuen« Diszi­plinen des Lufttanzes an Wettbe­werben zu betei­ligen. Dabei wurden von einzelnen Akroba­tinnen immerhin bei Europa- und Weltmeis­ter­schaften höchst ehren­volle Platzie­rungen und Auszeich­nungen errungen.

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Über das Theater-Projekt hinaus ist es Mirosława Kister und Krzysztof Okoń ein beson­deres Anliegen, in die Breite zu wirken und Menschen für das Tanzen in der Luft zu begeistern. An ihren Kursen können Inter­es­sen­tinnen und Inter­es­senten jeden Alters und jeder akroba­ti­schen Begabung teilnehmen. Die Schüler haben die Möglichkeit, ihre erwor­benen Fähig­keiten in jährlichen Abschluss­ver­an­stal­tungen im Musik­theater von Gdingen unter Beweis zu stellen, während besonders talen­tierte Eleven einge­laden werden, direkt an Auffüh­rungen des Mira-Art-Theaters mitzuwirken.

Magdalena Pasewicz-Rybacka