Susanne Beyer: Kornblumenblau
München: DVA, 2025
»Kornblumenblau« – ein Buchtitel, der an Sommer, an Schönheit und Unbeschwertheit denken lässt, auch an die Kornblume als Symbol des Lebens, und wer sich in der populären Musikgeschichte auskennt, erinnert sich vielleicht an den Schlager gleichen Titels aus den 1930er Jahren. Für Susanne Beyer bedeutet die Titelwahl ungleich mehr: Ihr Großvater, so hieß es in der Familie, habe als Chemiker in seiner Doktorarbeit die synthetische Herstellung des blauen Farbtons untersucht. Ein Naturwissenschaftler, der sich mit dieser hübschen Farbe beschäftigt, erschien der Enkelin sympathisch und poetisch, und erst Jahrzehnte später beginnt die Journalistin eine intensive Recherche, um dem Familiengeheimnis um ihren Großvater auf die Spur zu kommen.
Mein Großvater wurde in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs erschossen. Er war kein Soldat, kein Offizier, er hat überhaupt nicht gekämpft in diesem Krieg. Umgekommen ist er trotzdem, und damit fängt das Geheimnis schon an.
Gleich zwei Versionen dieses Todes existieren in der Familie, welche kann stimmen? Und wer war dieser Mann, von dem erzählt wurde, er sei besonders ehrlich und verlässlich gewesen, ein Chemiker, der nicht in der NSDAP war, kein Nazi? Susanne Beyer, recherchegeübt, tastet sich Schritt für Schritt vor, lässt ihre Leser an ihren Überlegungen, ihren Fragen und Sorgen teilhaben. Der 1906 in Düsseldorf geborene Wilhelm studierte nach dem Ersten Weltkrieg Naturwissenschaften, spezialisierte sich auf Chemie – wegen der guten Zukunftsaussichten oder aus echter Neigung? – und promovierte 1933 bei Walter Dilthey, einem namhaften Fachmann für Pflanzenfarben. Erste Irritationen ergeben sich, als die Enkelin in einer Kopie der Dissertation keinerlei Hinweis auf das Kornblumenblau findet, von dem doch in der Familie immer erzählt worden war. Sollte das eine Deckerzählung gewesen sein, um zu vertuschen, woran der Großvater wirklich gearbeitet hatte?
Ab 1937 war er im Amt für deutsche Roh- und Werkstoffe beschäftigt, das 1939 in Reichsamt für Wirtschaftsausbau umbenannt wurde. Das Amt koordinierte sechs Jahre lang die Pläne des größten deutschen Chemiekonzerns der Zeit, der I. G. Farben, und sorgte dafür, dass die Rohstoffe, die im Krieg benötigt wurden, hergestellt bzw. die Entwicklung und Forschung synthetischer Ersatzstoffe vorangetrieben wurden. In diesem Bereich investierte der NS-Staat, die Bedeutung fossiler Ressourcen für militärischen Erfolg im Blick, massiv. Der Aufbau staatlicher Stellen korrespondierte mit einer geringer werdenden Zahl nicht-staatlicher Unternehmen, so dass praktisch alle Chemiker in irgendeiner Form für den Staat arbeiteten.
Die I. G. Farben, seinerzeit das viertgrößte Unternehmen der Welt mit vielfältigen Aufgaben und Verflechtungen, war spätestens ab 1937 mit Kriegsvorbereitungen befasst. Für die Reifen der Wehrmachtsfahrzeuge, aber auch für Dichtungen und für die Ummantelung der Laufrollen von Panzern wurde Gummi benötigt. Naturkautschuk, der erforderlich gewesen wäre zur Herstellung, war nicht in beliebiger Menge zu importieren. Die Chemiker setzten auf synthetischen Kautschuk, der aus dem Gas Butadien und dem Element Natrium hergestellt wurde, die I. G. Farben hielt das Patent auf diese Formel, der Begriff »Buna« wurde geboren.
Susanne Beyer, die bislang geglaubt hatte, ihr Großvater habe sich beruflich mit Pflanzenfarben beschäftigt, muss darüber hinaus erkennen, dass es eine Verbindung zwischen dem Chemiker und dem KZ Auschwitz gab: Die I. G. Farben begann 1941 in Auschwitz ein Werk zu bauen, ab 1942 wurde wegen des erhöhten Bedarfs an Arbeitskräften in der Nähe das firmeneigene KZ Buna-Monowitz errichtet. Auch wenn der Großvater nicht persönlich dort gewesen sein sollte und 1941 niemand im Reichsamt das verheerende Ausmaß der Vernichtung ahnen konnte, das von diesem Ort ausgehen würde, musste jeder gewusst haben, wie es in einem Konzentrationslager zuging. »Und wer Zeuge eines Unrechts ist, wird auch Teil dieses Unrechts, selbst wenn er das Unrecht nicht selbst bewirkt hat«, konstatiert die Autorin und erinnert mit den Worten des Zeitzeugen – und späteren italienischen Schriftstellers und Chemikers – Primo Levi, der elf Monate auf der Buna-Baustelle ausharren musste, daran, dass die Arbeit in Auschwitz III nicht nur grausam, sondern zudem sinnlos war:
Buna ist hoffnungslos. […] Wie noch zu berichten sein wird, kam niemals auch nur ein einziges Kilogramm synthetischen Gummis aus der Fabrik von Buna, um die sich die Deutschen vier Jahre lang mühten, und in der wir, unzählbar, litten und starben.
Der Chemiker-Großvater war seinem Arbeitgeber als »unentbehrlicher Spezialist« so wichtig, dass er ihn wiederholt vom Wehrdienst freistellen ließ, und wurde in der Endphase des Krieges, als die Entwicklungsabteilung des Reichsamtes im brandenburgischen Kloster Lehnin ein Ausweichquartier fand, dorthin beordert. Ende April 1945 bezahlte Wilhelm bei der Ankunft russischer Truppen auf dem Klostergelände für die Tätigkeit im Amt mit seinem Leben.
Im Unterschied zum vorliegenden Text erzählt Susanne Beyer nicht entlang der Daten und Fakten der Biografie ihres Großvaters, sondern blättert dem Leser den detaillierten Verlauf ihrer Spurensuche auf, stellt sich wiederkehrenden Fragen und Zweifeln, reflektiert die eigenen »blinden Flecken«, zeigt ihre Bereitschaft, sich emotional nicht vereinnahmen zu lassen, ohne dies jedoch gänzlich verhindern zu können. Das Geheimnis um den Tod des Großvaters aufzulösen, ist nicht mehr ihre vorrangige Aufgabe; die Autorin erkennt, dass imaginative Vergangenheit wirkmächtiger ist als dokumentarische Faktizität – und wie sehr sie selbst mit ihren eigenen Scham- und Schuldgefühlen den Opfern des Nationalsozialismus gegenüber durch Familiengeschichte und ‑geheimnisse geprägt worden ist. Der Gedanke, eine Nachfahrin eines »Täters« zu sein, beschäftigt die Journalistin derart, dass sie ihn mit besonders differenzierter Recherche und Rückversicherungen zu bannen sucht. Und die Einsicht: »Geschichte setzt sich im Kleinen – in den Familien – und im Großen – in der Politik – immer fort, und sowohl die psychologische als auch die historische Forschung zeigt, dass es sich bewährt, zu verstehen, was sich da fortsetzt«, bezieht Susanne Beyer nicht nur auf sich, sie bietet in ihrem Buch den Leserinnen und Lesern, die die eigene Familiengeschichte (besser) verstehen wollen, zahlreiche praktische Hinweise, Quellen und Adressen, damit sie individuelle Recherchen vornehmen können, angefangen vom Erstellen eines Familienstammbaums bis zu Ratschlägen für Zeitzeugengespräche.
Das Kornblumenblau, von welchem jahrzehntelang die Rede war, repräsentiert das Leben des Großvaters nicht, resümiert Beyer, doch die Kornblumenblüte, die sich aus kleinen, einzelnen Blüten und mehreren Farbnuancen zusammensetzt, kann als Symbol verstanden werden dafür, dass sowohl der Blick aus der Distanz als auch der aus unmittelbarer Nähe ihre Berechtigung haben und das Beharren auf der einen, richtigen Sichtweise nicht zielführend sein wird. st Annegret Schröderen, indem sie ihn eloquent und kurzschrittig mit einer Fülle von Geschichten, Fakten und Analysen konfrontiert und dabei auch von der Flut bewegender, oftmals verstörender Bilder berichtet: beispielhaft von der »totenschwarze[n] Hand mit den rotlackierten Fingernägeln« aus Butscha, von dem »in einen Bombenkrater verwandelten Theater von Mariupol« oder den 367 im Keller eingesperrten Menschen, die für ihre Notdurft zwei Eimer und als Toilettenpapier Seiten aus Werken namhafter ukrainischer Intellektueller, etwa denen des verehrten Nationaldichters Taras Schewtschenko aus dem 19. Jahrhundert, benutzen mussten – eine besonders infame Demonstration fortwährender kultureller Verachtung. (Wer spricht je von Gogol als ukrainischem Dichter?) Darüber hinaus verweist sie auf die unüberschaubar vielen grausamen Momentaufnahmen aus dem Internet, deren Unmittelbarkeit ihr unbegreiflich sind: Soldaten, die unter widrigsten Bedingungen filmen, wie sie sich mit vereisten Bärten, Eisperlen besetzten Wimpern durch das Tosen des Windes und pausenlosen Geschützdonner kämpfen oder von einer Sekunde auf die andere unter gellenden Schreien zerfetzt werden:
Mir ist noch nicht klar, was diese mörderisch-lebendige Intensität des Krieges mit mir zu tun hat. Ich sitze in meiner Wohnung, im Rücken Bücherregale und die Fotos meiner Kinder, und konsumiere auf Instagram, Twitter, Facebook, Threads, Telegram, YouTube, TikTok […] die Bilder und Videoaufnahmen von Drohnen, GoPros, Dash Cams und Satelliten, die zum ersten Mal in der Geschichte der Kriege direkt von denen kommen, die den Krieg selbst führen, erleben, erleiden, Reel für Reel, Selfie für Selfie, ohne die Vermittlung der Massenmedien.
Es ist Francesca Melandri vergönnt, dass sie ihren Blick auf das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine sowie das politische Agieren und Taktieren durch einen Schatz an persönlichen Einsichten zu schärfen und somit auch die Erfahrungen, die dieses Buch vermittelt, auf besondere Weise zu vertiefen vermag: Sie lässt den Leser an dem intimen inneren Dialog, den sie mit ihrem verstorbenen Vater führt, teilhaben; er sei, wie sie immer wieder anmerkt, bereits »weitergegangen« – eine zärtlich poetische Umschreibung nicht zuletzt auch ihres Empfindens, über den Tod hinaus mit diesem geliebten Menschen verbunden, buchstäblich »im Gespräch«, bleiben und Fragen an ihn richten zu können, vor allem jene, die sie nicht gewagt oder vergessen hat zu stellen. So vermag sie sich am Ende dieses Buches mit den Worten »in Liebe, Bestürzung und Hoffnung« von ihm zu verabschieden.
Die Lebensgeschichte des Franco Melandri (1919–2012) – eine brüchige Biographie, der sich die Tochter ebenso einfühlsam, schonungslos wie kritisch stellt – erzählt von einem jungen Soldaten, der bereits an die Fronten in Griechenland und Jugoslawien geschickt worden war, bevor Mussolini 1942 den Befehl erließ, die deutsche Wehrmacht im berüchtigten »Russlandfeldzug« zu unterstützen, der, wie die Autorin mantraartig betont, »in Wahrheit größtenteils ein Ukrainefeldzug war«. Für die Verdienste, nach dem russischen Gegenangriff seine Männer aus dem Kessel bei Waluiki gerettet zu haben, durch die eisige Steppe, ohne Essen und Munition, mit eiskalten, wenn nicht gar erfrorenen Füßen – aus diesem traumatischen Erlebnis resultiert der Titel dieses Buches – wurde Melandri mit der »Silbermedaille für militärische Tapferkeit« ausgezeichnet.
Allzu gern und ausmalend wird den drei Töchtern von dieser Heldentat erzählt.
Die in den Familiengeschichten überlieferten Erinnerungen ragen aus der Vergangenheit heraus wie schwarze Felszacken aus einer Schneelandschaft. Sie erheben sich aus dem gleichförmigen Weiß des Vergessens und skizzieren die Geografie der Erinnerung.
Verborgen hingegen blieb – und wurde erst später durch die Tochter aufgedeckt –, dass der jugendliche Heimkehrer noch Ende 1945 geglaubt hat, mit einem bekennend faschistischen, salbadernden Pamphlet in der Gazzetta del Popolo (und zudem noch neben einem Artikel von Goebbels) reüssieren zu können – fassungslos fragt die Tochter: »Was hast du dir nur dabei gedacht, Papa?« Einer kuriosen Begebenheiten allein war es zu verdanken, dass dieses Schriftstück ohne persönliche Konsequenzen blieb und der Vater späterhin unbehelligt unter anderem als Schriftsteller und Journalist in Italien arbeiten konnte.
Drei literarische Werke, die Franco Melandri zwischen 1970 und 2000 zur Aufarbeitung seiner Kriegserlebnisse verfasst hat, werden für die Autorin zu wichtigen Wissensquellen. Sie wählt daraus für die 32 thematisch geordneten Kapitel ihrer Ausführungen je ein einleitendes Zitat und weiß darüber hinaus die gewonnenen Erkenntnisse aufs Engste mit ihren Betrachtungen über das aktuelle Kriegsgeschehen zu verknüpfen und zueinander in Beziehung zu setzen. Ihr Fazit lautet: »Ja, es gibt Tausende beängstigende Ähnlichkeiten zwischen Deinem Krieg und dem Krieg in der Ukraine […] Die Geschichte scheint sich in ein ominöses Spiegelkabinett verwandelt zu haben.« In diesem Zusammenhang ist es für sie schockierend, in einem im Netz kursierenden Video beobachten zu müssen, wie heutzutage – in beklemmend symbolhafter Verdichtung – zwei ukrainische Soldaten beim Ausheben eines Schützengrabens auf menschliche Knochen eines im Zweiten Weltkrieg verschollenen Soldaten stoßen – »Es hätte Dein Skelett sein können.«
Die Schlussfolgerungen, die Francesca Melandri aus ihren intensiven Recherchen und kritischen Beobachtungen zieht, erscheinen glasklar. Sie betreffen den privaten Bereich, indem die Autorin Familiengeschichten der Legendenbildung überführt und das Bild des Vaters korrigieren muss: Ohne sich für den Faschismus von gestern schuldig zu fühlen, will sie durch Aufklärung und Erinnerungsarbeit Verantwortung für die Demokratie von morgen tragen. Persönlich galt es – für eine linke Intellektuelle ein schmerzlicher Prozess – die vermeintlich unanfechtbare Haltung zum Pazifismus, zu dieser »glücklichen Ignoranz«, angesichts eines aggressiven Angriffskrieges gewissenhaft zu überprüfen, an die (wie es im Artikel 11 der italienischen Verfassung heißt) »Verteidigung des Vaterlandes als heilige Pflicht des Staatsbürgers« zu erinnern und mit Blick auf das kämpfende ukrainische Volk, insbesondere ihres Präsidenten, den Begriff des Heldentums neu zu bedenken.
Sie selbst wirft sich ihre eigene Unwissenheit bezüglich der Ukraine vor; jetzt diskutiert sie leidenschaftlich, inwieweit dieses Land nicht längst und immer wieder Opfer von Kolonialkriegen war – wie etwa dem »Brotkrieg« zur Versorgung der italienischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges. Ausdrücklich prangert Francesca Melandri die Ignoranz und Herzlosigkeit vieler (italienischer) Intellektueller und Journalisten in der Berichterstattung über die Ukraine an und kritisiert darüber hinaus, dass die Westeuropäer im Allgemeinen auf ihrer »goldenen Insel des Wohlstands und Friedens« niemals »Kriegszeugen«, sondern allein »Zuschauer« seien, die sich auf den Ruf nach Frieden beschränken, also bezüglich der Solidarität metaphorisch ebenfalls »kalte Füße« bekommen – im Gegensatz dazu seien die »Irynas« zu rühmen, die vor Ort für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen und denen dieses Buch gewidmet ist.
»Mir wird ganz schwindelig, Papa, angesichts dieses verworrenen Gebildes aus Geschichte und Gegenwart«, bekundet Francesca Melandri, und auch der Leser wird sich eines solchen Gefühls mitunter kaum entziehen können – und zugleich erkennen müssen, dass sich die Brisanz dieses Buches aktuell von Tag zu Tag zuschärft.
Ursula Enke