Merethe Lindstrøm: Nord
Berlin: Matthes & Seitz, 2023
Die Rezension einer Publikation über Flucht und Vertreibung vermag im Magazin Westpreußen schwerlich zu überraschen, denn Vorstellungen von entsprechenden Neuerscheinungen werden dort mit einiger Regelmäßigkeit berücksichtigt. Das schmale, aus der skandinavischen Gegenwartsliteratur stammende Büchlein, auf das hier die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll, erfasst diese Thematik aber in einer besonderen Weise, denn jenseits aller individuellen Schicksale und konkreten Ortsbestimmungen richtet es einen ungewohnten, eigenwilligen Blick auf das Leben von flüchtenden Menschen – und verspricht dadurch eine gleichermaßen herausfordernde wie spannende Lektüre.
Seit über zwanzig Jahren werden in Deutschland gelegentlich Romane der Norwegerin Merethe Lindstrøm verlegt, einer in ihrem Heimatland mehrfach ausgezeichneten Schriftstellerin, die 1963 geboren wurde und in jüngeren Jahren auch als Rocksängerin – nicht zuletzt in Berlin – künstlerisch erfolgreich war. Der jetzt vorliegende Roman, der mit seinem kargen Titel Nord kaum Spuren legt, wurde in der Originalsprache bereits 2017 veröffentlicht; dass er nun, sechs Jahre später, auch dem deutschen Buchmarkt erschlossen worden ist, könnte dafür sprechen, dass die politischen und auch militärischen Entwicklungen der jüngsten Zeit international einen größeren Resonanzraum für solch ein ungewöhnlich gestaltetes, höchst brisantes Werk eröffnet haben.
»Der Junge saß auf einem Baum.« Mit dieser lapidaren Feststellung führt der jugendliche Ich-Erzähler den Leser unvermittelt in das Romangeschehen ein. Irgendwann muss der Junge dann heruntergeklettert sein und trottet hinter dem älteren Begleiter her, räudig wie ein Hund. Von nun an ziehen die beiden, Gespenstern gleich, gemeinsam des Weges, abgemagerte Gerippe in Kleiderfetzen gehüllt, die »längst Haut geworden, kaum zu entfernen« sind; verzweifelt und hemmungslos suchen sie nach Essbarem, nach etwas zu trinken. Sie irren durch eine unbekannte, vom Krieg verwüstete und verwaiste Landschaft, durch Rauch und Trümmerlawinen, vorbei an Häuschen, »zusammengesackt wie ein Säufer in seinen Lumpen«; sie finden Schutz in den undurchdringlich dunklen Wäldern, in einer Kirche, in einer verlassenen Villa oder in Ruinen, »besichtigen die Kulisse einer vergangenen Stube«, in der die Tassen auf dem Tisch noch ebenso an die ehemaligen Bewohner gemahnen wie die Kleider, die an einer Leine flattern, inzwischen staubig und von der Sonne ausgeblichen.
Allgegenwärtig sind die Zeugnisse von Zerstörung, Verfall und Gewalt, mitunter zu grässlichen Bildern erstarrt: Männer, auf Zäunen aufgespießt, dann die alte Frau, vor der Scheune sitzend und ihre Stickerei friedlich in Händen haltend; der Mund ist aufgerissen, ein Pfahl hat den Körper von oben durchbohrt: »Geh einfach, schau nicht hin«, möchte der Erzähler herausschreien. Diese Schreckensszenarien werden untermalt vom furchteinflößenden Dröhnen der immer wiederkehrenden Kampfflieger, »diese scharf geschnittenen Silhouetten vorm Himmel, mit dicken Bäuchen und vollen Gedärmen, die sich über den Berghängen entleeren«; die Hände um den Schädel gekrallt, werfen sich die Jungen auf den Boden, verharren zitternd im Matsch, bis der »abscheuliche Gesang« vorüber ist.
Während die Leser dem Ich-Erzähler über verworrene Wege und durch ein Labyrinth von Gefühlen folgen, erschließt sich ihnen allmählich, wenngleich nur äußerst bruchstückhaft, aus wenigen schillernden Mosaiksteinen ein schemenhaftes Bild des siebzehnjährigen Jungen: Nachdem man ihn eines Vormittags aus seinem Klassenzimmer entfernen ließ – wohl aufgrund der auffälligen Deformierung seiner Schulterblätter, durch die er als Krüppel diskreditiert wird und die als sein einziges signifikantes Merkmal ein Leitmotiv des Romans bildet –, wird er in ein Sammellager »im Osten« verschleppt. Gebrandmarkt durch eine Tätowierung und von der Faust eines Wachmanns halb taub geschlagen, verlässt er zum Kriegsende mit einer Marschkolonne das Lager. Nach Wochen gelingt es ihm, zu fliehen, und er versucht, sich auf eigene Faust in seine Heimat nach »Nord« durchschlagen.
Jenseits dieser spärlichen Informationen bleibt vieles im Nebulösen verborgen, Zeiten und Orte lassen sich nicht konkretisieren – ein Dorf, das dem Flüchtling kurzfristig Unterschlupf gewährt, trägt bezeichnenderweise den Namen »Welcherweg« –, das Kriegsgeschehen selbst wird weder thematisiert oder geschichtlich eingeordnet noch werden seine Akteure benannt – wie auch die Protagonisten ihrerseits namenlos, ihrer Identität beraubt bleiben. Eindeutigkeit und Sicherheit schenkt ihnen allein ein Kompass, denn nur ihm können die Flüchtenden trauen, und sein Verlust trifft sie sehr hart.
Demgegenüber steht als Sinnbild für das Irisierende, Ambivalente beispielhaft jene zart beleuchtete Szene, während derer sich der »Junge vom Baum« an einem verborgenen See gleichsam wie in einem Traum vor den Augen des Ich-Erzählers in ein Mädchen verwandelt: Die Eltern hatten ihrem Kind die Haare abgeschoren und es in Männerkleider gesteckt, um das Mädchen vor gewalttätigen Soldaten zu behüten; später entzieht sich dieser »Junge« im Schutz eines hohen Baumes der drohenden Rekrutierung. Der Ich-Erzähler ist irritiert und zärtlich berührt, zugleich aber tief betroffen von der immer wiederkehrenden Erkenntnis, dass nichts als verlässlich gelten kann, vieles scheinbar in einem Schwebezustand verharrt. Dasselbe vermag er auch bei dem Mädchen synästhetisch zu spüren: »Ich höre ihre Gedanken, dass sie nirgends zu Hause ist, nicht im Wald oder am Meer. Nicht in Nord. Dass sie wie Staub ist. Ununterbrochen in Bewegung.«
Eine Folge von Absätzen und gestaltenden Weißräumen geben dem Roman von Merethe Lindstrøm seine prägende Form und gewähren ihrer Hauptfigur Zeit und Raum, sich gedanklich frei und assoziativ zwischen Vergangenem, der Gegenwart und dem Sehnsuchtsort »Nord« zu bewegen. Von Respekt und tiefer Empathie erfüllt, verleiht die Autorin dem jungen Mann exemplarisch für alle Getriebenen, der Heimat Beraubten, von Krieg und einem erbitterten Überlebenskampf Gezeichneten – wann und wo dieses Unrecht auch immer geschehen sein könnte – ihre Stimme, um nicht zuletzt in feingesponnenen Sprachbilder auch von einer bewundernswerten, die eigene Würde bewahrenden Resilienz zu zeugen: Allen widrigen Umständen zum Trotz vermag der Ich-Erzähler die Einzigartigkeit und Schönheit eines Augenblicks wahrzunehmen, »sobald das Licht den Himmel flutet, so lautlos wie man Rahm in eine Schüssel gießt«; oder wenn er beobachtet, wie in dem schützenden Gemäuer von einem Sockel »eine Art winziger Klöppelspitze aus Bläschen von Spinneneiern« hängt und in »feuchten Ritzen versunken ein Teppich aus Pilzfäden« sein darf, ebenso wie auch das Efeu, denn »das Außen wächst nach Innen, nichts steht still, das Haus ist ein Wesen, so wie der Weg und der Wald mit seinen unbeirrbaren Bäumen«.
Wenn der Protagonist glaubt, endlich die Grenze hinüber nach »Nord« erreicht zu haben, doch wegen fehlender Papiere zurückgewiesen wird; wenn er mehrmals vergeblich versucht, wie ein Tier durch ein Loch unter dem Zaun in sein Heimwehland zu gelangen, sein Schicksal sich aber wieder ins Ungewissen zu wenden droht, – spätestens dann berührt die Lektüre dieses außergewöhnlichen Romans von Merethe Lindstrøm diesseits der angestrebten Allgemeingültigkeit durch seine beklemmende Aktualität.
Ursula Enke