Die Geschichte des markanten Wahrzeichens von Elbing
Von Bartosz Skop
Jede Stadt hat ein architektonisches Symbol, das fest mit ihr verbunden ist. In der alten Hansestadt Elbing trifft dies zweifellos auf die Domkirche St. Nikolai mit ihrem 97 m hohen Turm zu.
Bis 1945 galt dieser Turm (gleichauf mit den beiden Domtürmen von Breslau) als der höchste in Ostdeutschland; in Polen nimmt er in solch einem Ranking heute den neunten Platz ein. Weiterhin ist er aber zumindest der höchste Kirchturm östlich der Weichsel.
Drei Jahre nach der Gründung von Elbing setzt im Jahre 1240 auch die Geschichte von St. Nikolai ein. Von nun an sind die Entwicklungen der Stadt und ihrer Pfarrkirche aufs Engste miteinander verwoben. Das Gebäude wird in den folgenden Jahrhunderten immer wieder erweitert und modifiziert. Darin spiegelt sich zunächst der Wunsch der Bewohner wider, den stetig zunehmenden Reichtum und das Prestige der Hansestadt in angemessener Weise zum Ausdruck zu bringen: Die Kirchtürme und die Stadtbefestigung treten in Elbing zu einem derart eindrucksvollen Panorama zusammen, dass die Stadt sogar mit den »Sieben Türmen« von Lübeck verglichen wird.
Eine neue Blüte erlebt die Stadt in der Gründerzeit, in der sie zu einem bedeutenden nordostdeutschen Industriezentrum aufsteigt. Folgerichtig wächst mit den ökonomischen Ressourcen Elbings auch das Bedürfnis der Bürgerschaft, an ihrer Hauptkirche einen repräsentativen – und nun besonders imposanten – Turm errichten zu lassen. Keine 40 Jahre später aber ist Elbings Altstadt – nachdem der Feuersturm des Zweiten Weltkrieges gewütet hat – weitestgehend vernichtet und findet im nackten Stahlskelett der Turmspitze, das sich über das Trümmerfeld erhebt, für längere Zeit das Sinnbild ihrer Katastrophe.
Glücklicherweise wird in der Stadtgeschichte seit den späten 1950er Jahren noch ein neues Kapitel aufgeschlagen: Über etliche Zwischenschritte konnte es somit 2015 gelingen, dass die Kirche, die inzwischen zur Kathedrale einer eigenen Diözese erhoben worden ist, wieder in voller Pracht als Wahrzeichen Elbings erstrahlt.
Ein mächtiges Westwerk
Wann einst mit dem Bau des Mittelturms begonnen wurde, lässt sich nicht mehr exakt erschließen. Die Arbeiten müssen aber gewiss in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts aufgenommen worden sein, denn bereits 1364 wurde die große Glocke erstmals urkundlich erwähnt und wohl wenig später auch aufgehängt. Allerdings führten ein zu dieser Zeit durchgeführter Ausbau des Hauptschiffs sowie das regelmäßige Läuten dieser Glocke zu einer Instabilität des Mauerwerks und der Turmkonstruktion insgesamt.
Die Elbinger haben dieses Problem auf eine originelle Weise gelöst. Während ihre Pfarrkirche – wie üblicherweise auch die anderen in Preußen – nur einen Glockenturm erhalten sollte, errichteten sie bis 1428 an dessen Seiten zwei weitere, fast gleich hohe Türme, deren bautechnische Hauptaufgabe darin bestand, den zentralen Turm zu stützen. Dadurch entstand ein beeindruckendes dreiteiliges Westwerk, das in der gesamten Region einzigartig war.
Nach der Reformation diente St. Nikolai von 1573 bis 1617 der lutherischen Gemeinde als Hauptkirche. In dieser geschichtlichen Phase erlebte die Stadt unter der polnischen Krone eine Zeit zunehmender Prosperität. So wurden 1576 an der West- und Ostseite des Hauptturms manieristische Giebel errichtet, in die Uhren mit großdimensionierten Zifferblättern eingefügt wurden; und der Baumeister Michael Janszon Pfingster konnte zwischen 1599 und 1603 den Haupt- und Uhrenturm mit einem spektakulären, durch zwei Galerien gegliederten Aufsatz versehen. Der »Grüne Turm«, wie er aufgrund seiner Farbe hieß, wurde jetzt zum Wahrzeichen der stolzen Stadt. Seine Höhe betrug 312 Fuß (ca. 96 m), und er überragte damit die meisten Türme der damaligen Respublica Poloniae.
Hohe Bauwerke ziehen zwangsläufig Blitze an. Von solchen Einschlägen wurde der Hauptturm von St. Nikolai mehrmals getroffen: Dies geschah 1647, 1652, 1718 und am Weihnachtstag 1736, wobei sich die Brände glücklicherweise jeweils zügig eindämmen ließen. Wenngleich Benjamin Franklin seine physikalischen Arbeiten über die Elektrizität 1751 veröffentlicht hatte, verfügte der Turm auch im Jahr 1777 noch über keinen Blitzableiter, und so schlug am 26. April während eines schweren Unwetters um 10:30 Uhr ein Blitz in die Spitze des »Grünen Turms« ein. Diesmal war das ausbrechende Feuer derart heftig, dass alle drei Kirchtürme bis auf Stümpfe herunterbrannten und dass die Dachkonstruktionen über den Kirchenschiffen und sogar das benachbarte Alte Rathaus zerstört wurden. Erst am Morgen des folgenden Tages konnten die Flammen unter Kontrolle gebracht werden, und kleine Brandherde schwelten noch bis zum 30. April.
Nach dieser Katastrophe erhielt die Kirche ein provisorisches Dach, denn alle Verantwortlichen wie auch die Bürger gingen wie selbstverständlich davon aus, dass das Gotteshaus nach und nach wiederaufgebaut würde. Dann verfasste Stadtbaumeisters Bernhard Emmanuel Friederici einige Jahre später allerdings ein Gutachten, in dem er an mehreren Stellen gravierende Risse im Mauerwerk, insbesondere an den Mauern des Nordturms zur Fischerstraße hin, konstatierte. Daraufhin wurden von den Mauern der Kirchenschiffe und der Seitentürme mehr als sechs Meter in der Höhe abgerissen; und die Hoffnung, dass wenigstens der Hauptturm bewahrt werden könnte, stellte sich während dieser Arbeiten in den Jahren 1786 und 1787 als trügerisch heraus, weil auch diese Partien in einem sehr schlechten Zustand waren und ebenfalls abgetragen werden mussten. Übrig blieb seit Anfang der 1790er Jahre nur der 13 m hohe Stumpf, der danach – nicht ohne Gehässigkeit – als »gewaltiger Mauerklotz« bezeichnet wurde. Damit hatte Elbing sein Wahrzeichen für lange Zeit verloren.
Ein Jahrhundert vergeblichen Bemühens
Der Magistrat der Stadt Elbing konnte ebenso wie die katholische Kirchengemeinde den Verlust der Türme nicht verwinden. Deshalb wurde Stadtbaumeister Friederici beauftragt, einen Entwurf für einen neuen Turm anzufertigen. Bei seiner Konzeption gelangte er zu einer Höhe von 240 Fuß, von der 130 Fuß in Holzbauweise errichtet werden sollten. Die Skizze wurde zur Genehmigung an das Oberbaudepartement in Berlin geschickt, dort wurde das Vorhaben aber aus größtenteils technischen Gründen definitiv abgelehnt. Daraufhin erstellte Friederici im Jahr 1790 einen neuen Entwurf und Kostenvoranschlag des Turmes mit einem barocken Aufsatz, der sich einschließlich von drei Glocken und einer Turmuhr auf einen Betrag von 20.653 Reichstalern und 60 Groschen belief, der weder von der Kirchengemeinde noch der Stadt hätte aufgebracht werden können. Die Gemeinde beantragte nun bei der Kriegs- und Domänenkammer zu Marienwerder eine Unterstützung, doch auch diese Bemühungen scheiterten 1793, und selbst eine ausdrückliche Befürwortung durch König Friedrich Wilhelm II. vermochte es nicht, diese Entscheidung zu revidieren. So konnte auf die Bedachung, die seit 1783 wie bei einer Hallenkirche alle drei Kirchenschiffe überspannte, 1796 nur ein kleiner Dachreiter aufgesetzt werden, der von nun an die Funktion des Glockenturms übernehmen musste. Diese vorläufige Lösung des Problems bestand – ebenso wie manches andere Provisorium – eine lange Zeit, und zwar, während das Thema Wiederaufbau immer wieder aufgegriffen wurde, das ganze 19. Jahrhundert hindurch.
Untersuchungen und Planungen
Ende des 19. Jahrhunderts zählte die katholische Gemeinde St. Nikolai bereits 10.000 Seelen, so dass der Wunsch nach einem repräsentativen Gotteshaus immer drängender wurde. So entstanden in der Amtszeit von Probst Adalbert Wagner Skizzen zu neuen Entwürfen. Demgegenüber unternahm der ihm nachfolgende Probst, August Zagermann, im Verbund mit dem Kirchenvorstand ernsthafte Anstrengungen, die Kirche in ihrem früheren Glanz wiederherzustellen. Deshalb untersuchte Maurermeister Otto Depmeyer im Jahr 1894 die Fundamente des früheren Turms und kam zu dem Ergebnis, dass sie für einen Neubau noch zu nutzen seien. Fünf Jahre später begutachtete ein Mauermeister Bruno Fechter neuerlich den »gewaltigen Mauerklotz« und kam ebenfalls zu dem Urteil, dass die vorhandene Bausubstanz das Gewicht des geplanten Turms tragen könnte. Diese Studien stehen vermutlich mit Entwurfstätigkeiten im Zusammenhang, die in dieser Phase zu einem nicht genauer bestimmbaren Zeitpunkt vom Königsberger Architekten Wilhelm Bolten ausgeführt wurden. Sein Konzept betraf zwar eigentlich nur den Turm, umfasste aber auch die Errichtung neuer Giebel auf den Mauern der drei Kirchenschiffe (die aber erst in den 1950er Jahren entstanden).
Boltens Ziel war es offensichtlich, durch das Aussehen und die Größe des Turmbaus den Eindruck des Erhabenen, wenn nicht Monumentalen hervorzurufen. Die Gesamthöhe sollte nun 96 m betragen. Die Begutachtung des Projektes erfolgte durch den örtlichen Bezirksbauinspektor Theodor Neuhaus. Trotz einer grundsätzlich positiven Einschätzung gab es auf verschiedenen Ebenen Kritik an einzelnen Details. Vom preußischen »Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten« wurde eine Sonderkommission eingesetzt, die am 8. Juni 1901 eine Besichtigung des Kirchengebäudes an seinem Standort vornahm. Zu klären war weiterhin die grundsätzliche Frage, ob der »Mauerklotz« tatsächlich in der Lage wäre, ein derart schweres Bauwerk zu tragen. Deshalb wurde beschlossen, zunächst noch weitere Untersuchungen vorzunehmen. Sie führten im September des gleichen Jahres zu dem Ergebnis, dass das Steinfundament des Turms eine Tiefe von fünf bis sechs Meter erreichte.
Nach der Kritik im Vorfeld konnten Boltens Vorstellungen nicht vollständig realisiert werden. Vielmehr wurde vom Kreisbauinspektor Theodor Neuhaus 1902 ein modifizierter Plan vorgelegt, der nun auch schon von einem Kostenvoranschlag in Höhe von 205.000 Mark begleitet wurde. Die Gemeinde St. Nikolai verfügte über ein früheres Legat, das sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts für den Bau eines Glockenspiels erhalten hatte und das inzwischen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts mit Zins und Zinseszins einen Wert von 100.000 Mark erreicht hatte.
In Bezug auf die weiterhin bestehende Finanzierungslücke hoffte die Gemeinde auf die Unterstützung des Staates in seiner Funktion als Schirmherr der Kirchen; die Behörden der Danziger Provinzialregierung und des schon genannten preußischen Ministeriums bestanden zunächst jedoch darauf, dass der Turm in derjenigen Gestalt wiederherzustellen sei, die seinem Erscheinungsbild im 17. Jahrhundert entspräche, und lehnten das Ersuchen letztlich mit der Begründung ab, dass der »Fiskus als Patron nach dem allgemeinen Landrecht nur zum Bau von Kirchen, nicht Kirchtürmen verpflichtet« wäre. In dieser Situation sah sich die gänzlich alleingelassene Gemeinde genötigt, für ihre Projekte selbst ein Darlehen in Höhe von 110.000 Mark aufzunehmen.
Der Turmbau
Die ersten Abbruchsarbeiten begannen im Mai 1906. Die gesamte Maßnahme wurde vom Königlichen Kreisbauinspektor Karl Michaelis geleitet, der in einzelnen Phasen jeweils von verschiedenen Architekten und Technikern unterstützt wurde. Hauptauftragnehmer waren die Elbinger Bauunternehmen Otto Depmeyer und Zimmermeister Walter Jebens.
Bei den Arbeiten am »Mauerklotz«, der ursprünglich – aufgrund der vorhergehenden Begutachtungen – hätte wiederverwendet werden sollen, wurden unerwarteterweise Risse in den Wandungen festgestellt, so dass ein vollständiger Abriss unausweichlich wurde. Auch der Zustand der Grundmauern entsprach nicht den Erwartungen. Darüber hinaus zeigte sich, dass sie kleinere Abmessungen aufwiesen, als frühere Untersuchungen ergeben hatten. Deshalb musste der Bauplan gleich zu Beginn leicht umgestaltet werden. Die wichtigste Änderung betraf die Fläche des Grundrisses, die von 13,00 : 13,60 m auf ein Quadrat von 12,75 m Seitenlänge verkleinert wurde, was dem Turmschaft eine schlankere Form verlieh. Die oberen Teile blieben im Maß unverändert.
Auch das Fundament bot eine unangenehme Überraschung: Es bestand aus losen Granit-Findlingen, die eine Last von rund 6.000 t nicht zu tragen vermochten. Deshalb musste die obere Schicht bis zu einer Tiefe von zwei Metern entfernt und vom darunterliegenden Teil an mit insgesamt 451,8 m³ Beton ausgegossen werden, der seinerseits durch Doppelträgerprofile stabilisiert wurde. Darauf konnte nun ein großes und schweres Bauwerk errichtet werden.
Am 24. Oktober 1906 fand die feierliche Grundsteinlegung statt. Damit wurde das Startzeichen für einen Arbeitsprozess gegeben, der zu einer Demonstration des modernen, technisch versierten Bauens werden sollte: Nirgendwo in Preußen wurde ein derart hohes Bauwerk in solch einer Geschwindigkeit errichtet: Im November 1906 ragten die Mauern schon eineinhalb Meter über das Niveau des Sockels heraus. Jetzt wurde eine elektrische Beleuchtung installiert, die es ermöglichte, die Arbeiten auch nachts fortzusetzen. Nachdem insgesamt 6 Mio. kg an Backsteinen und Eisen verbaut waren, erreichte der Turmschaft bereits Ende Juli 1907 die Höhe, auf der er mit vier neomanieristischen Giebeln bekrönt wurde – die Sandsteinelemente hatte die Firma Migge aus Breslau geliefert – und auf der nun das Stahlgerüst des Helmes aufgesetzt werden konnte.
Naturgemäß ging der Aufbau der Stahlkonstruktion noch rascher vonstatten. Die von Brettschneider & Krüger aus Berlin-Pankow gelieferten Bauelemente des Turmhelms wurden unten auf dem Straßenniveau aufgebaut, dann mit Hilfe hydraulischer Hebevorrichtungen nach oben transportiert und dort dann verschweißt. Dieses Skelett wurde schließlich mit Holz und Kupfer verkleidet. Auf diese Art entstand ein zeitgemäßes Bauwerk, dessen Erscheinungsbild äußerlich gleichwohl stark an dasjenige des »Grünen Turms« erinnerte. – Während der ganzen Bauzeit ereignete sich übrigens nur ein einziger Unfall: Ende September 1907 traf ein herabfallender Hammer einen der Handwerker und fügte ihm einen Schädelbruch zu.
Gegen Ende des Jahres 1907 waren die Arbeiten so weit vorangeschritten, dass noch im Dezember der Glockenstuhl gebaut und sechs Glocken, die von der Glockengießerei Franz Schilling aus Apolda stammten, aufgehängt werden konnten. Das von Phillip Hörz in Ulm gefertigte Uhrwerk verfügte über vier große Zifferblätter mit einem Durchmesser von jeweils 4,30 m; es schlug zur halben und zur vollen Stunde, und die Zeiger und Ziffern waren vergoldet. Es handelte sich um eine der größten Turmuhren Westpreußens. Schließlich wurde das Bauwerk noch mit einem sieben Meter hohen Kreuz bekrönt.
Bereits im Frühjahr 1908 konnte die Baustelle abgeräumt werden. Die endgültigen Kosten beliefen sich – ohne Berücksichtigung der Bauleitung – auf 256.000 Mark. Als denkwürdiges Zeugnis der avancierten Baukunst im frühen 20. Jahrhundert erfüllte dieser Turm in vorzüglicher Weise die Ambitionen des modernen Elbing, das in der Kaiserzeit eine glanzvolle Renaissance als Industriestadt erlebte. Für die Höhe des Bauwerks findet sich in dieser Zeit die Angabe von 95 m, während das Ergebnis heutiger Messungen eine Höhe von 97 m beträgt.
Das weitere wechselvolle Schicksal
Im Jahr 1918 wurden die Kupferverkleidung des Turmhelms zwar zu Kriegszwecken beschlagnahmt, blieb aber intakt, weil die Demontage ein Gerüst nötig gemacht hätte und die Anordnung mithin nicht umsetzbar war. Die Glocken von Franz Schilling hatten weniger Glück: Sie wurden 1917 im Zuge der »Metallspende des deutschen Volkes« requiriert, abgenommen und eingeschmolzen. Die Glockengießerei Heinrich Humpert – Inhaber Junker & Edelbrock – Albert Junker in Brilon stellte 1928 vier neue große Glocken her, auch sie aber wurden dann im Zweiten Weltkrieg beschlagnahmt.
Zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurde St. Nikolai schwer beschädigt. Am 2. Februar 1945, an »Mariä Lichtmess«, brannte das ganze Kirchengebäude nieder. Der Turm verlor seine Kupferummantelung und einige seiner Giebel stürzten ein. Das Stahlgerippe hingegen trotzte den Zerstörungen. Für die neuen Machthaber lag es deshalb nahe, den wertvollen Rohstoff für eigene, bessere Zwecke zu nutzen. Dabei ergab sich die aufschlussreiche Konstellation, dass zwar der zweite polnische Stadtpräsident von Elbing, Jerzy Skarżyński, den Abriss des Gerüsts verfügte, der sowjetische Stadtkommandant Oberst Jurij Novikov aber, der von Beruf Architekt war, dagegen heftigen Protest einlegte. Auf diese Weise blieb die besondere Trägerkonstruktion nachfolgenden Generationen erhalten und wurde dann in den Jahren 1948/49 vollständig gesichert.
1950 konnten bereits einzelne Reparaturarbeiten vorgenommen werden: Der Glockenstuhl wurde gerichtet und mit drei stählernen Glocken vom Turm der kriegszerstörten St. Annenkirche bestückt. Im Jahr 1957 wurden Einschusslöcher im Maurerwerk geschlossen, und zwar mit Ziegeln, die hier nach dem Abbruch der von Wilhelm II. erbauten Kaiserkirche in Cadinen eine Wiederverwendung finden sollten.
Die Arbeiten zum Wiederaufbau der Turmspitze begannen 1961. Wohl aus finanziellen Gründen wurde auf eine historisch getreue Rekonstruktion der Giebel zugunsten schlichter Bauformen verzichtet. Die Rekonstruktion des Helms folgte aber der ursprünglichen Vorlage. Auch dabei sollten allerdings die Kosten möglichst niedrig gehalten werden, indem die Verkleidung nicht aus Kupfer, sondern aus verzinktem Blech gefertigt wurde. Diese Maßnahme fand im September 1963 ihren Abschluss; und danach wurde im Jahr 1970 nur noch ein kleinerer Umbau der Treppenhäuser vorgenommen.
Im Laufe der beiden folgenden Jahrzehnte machte sich die unzureichende Qualität der Turmverkleidung zunehmend bemerkbar: Sie begann schlichtweg zu rosten. Einen wichtigen Impuls, die notwendig gewordenen Renovierungsarbeiten tatsächlich durchzuführen, gab 1992 die Bildung der neuen Diözese Elbing mit der Erhebung der Nikolai-Kirche zum Bischofssitz: Bereits im folgenden Jahr verschwanden die hässlichen Zinkplatten und machten einer angemessenen Kupferverkleidung Platz.
In den Jahren 2014/15 folgte schließlich eine umfassende, langwierige Instandsetzung des Bauwerks, die durchaus spektakuläre Momente hatte, denn zweitweise erweckte der fast vollständig in Folie eingeschlagene Turm den Eindruck, als ob der Künstler Christo eines seiner Verhüllungsprojekte realisiert hätte. Im Rahmen dieser Arbeiten wurde zudem die Stahlkonstruktion verstärkt und die untere Galerie als Aussichtsplattform nutzbar gemacht. Von nun an war der Turm – wie übrigens auch schon einmal in der Zwischenkriegszeit – für Besucher zugänglich.
Ein Turmaufstieg
Im unteren Teil des Bauwerks befinden sich zwei separate Treppenhäuser. Deshalb haben sich der Eingang auf der linken und der Ausgang auf der rechten Seite der Vorhalle voneinander trennen lassen. Auf der ersten Etage, in gut acht Metern Höhe, befindet sich eine kleine Ausstellung von Relikten der früheren Kirchenausstattung sowie von Schautafeln zur Sanierung des Kirchturms. Im Jahr 1908 war hier eine – im Krieg untergegangene – Pfarrbibliothek eingerichtet worden. Wenn das nächste Stockwerk erklommen ist, befindet man sich auf einer Höhe von 21 m und sollte nicht versäumen, einen Blick durch das Fenster der Tür zu werfen, die zum Dachboden des Hauptkirchenschiffs führt.
Von hier aus gelangt man noch über gemauerte Stufen bis zum dritten Obergeschoss (32,6 m), danach folgen Wendeltreppen aus Stahl. Beim weiteren Aufstieg passieren die Besucher das Stockwerk, das den Glockenstuhl beherbergt und auf dem auch die massiven Ständer des 53 m hohen und 40 t schweren Turmgerüsts aufruhen. Die vierte Etappe ist in einer Höhe von 47 m erreicht. Hier befanden sich bis zum Kriegsende das Uhrwerk und auf den vier Seiten jeweils eins der mächtigen Zifferblätter.
Zugleich ist dies die letzte Zwischenstation vor der unteren Galerie des Turmhelms, die nach weiteren 20 m erklettert ist. Hier betreten nun diejenigen, die die Herausforderung angenommen und bestanden haben, endlich die Aussichtsplattform und werden für ihre Mühe, über 366 Stufen eine Höhe von gut 67 m erstiegen zu haben, reichlich belohnt: Von dieser hohen Warte aus lässt sich die gesamte Stadt überschauen, der Blick reicht bis zum Frischen Haff, zur Weichsel-Niederung und bei gutem Wetter sogar bis zur Marienburg. Dass die obere Galerie, in einer Höhe von 78 m, für Touristen nicht zugänglich ist, dürfte nach diesen erhebenden Eindrücken zu verschmerzen sein.