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Titelbild: Neptunbrunnen in Danzig

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Die Westpreußen – eine »unwahrscheinliche« Landsmannschaft

Skizze zur Frühgeschichte des Bundesverbandes

Von Erik Fischer

Organisationen und Vereine erwecken bei ihren Mitgliedern oftmals den Eindruck einer großen Kontinuität und Beständigkeit, der die Erinnerungen an kleinere Kursänderungen oder sogar tiefer­greifende Umbrüche verblassen lässt. Deshalb erscheint es nach dem langen Weg, den die »Westpreußen in der Fremde« nun schon zurückgelegt haben, besonders reizvoll, zur Selbstvergewisserung einmal einen intensiveren Blick zurück zu werfen. – Selbstverständlicherweise wird daraus noch ein umfangreicheres Projekt entstehen, von dem in diesem Fokus zunächst nur einige wenige Perspektiven angedeutet werden können.

Wer heute die Website des Bundes der Vertrie­benen besucht und dort die Unter­seite der Mitglieder aufruft, findet erwar­tungs­gemäß auch die Westpreu­ßische Gesell­schaft; denn die hier verzeich­neten Lands­mann­schaften bilden tenden­ziell alle früheren preußi­schen Provinzen und anderen ehema­ligen Siedlungs­ge­biete der Deutschen im östlichen Europa ab. Bevor es überhaupt zu einer solchen »flächen­de­ckenden« Konzeption kommen konnte, mussten die Westpreußen sich aller­dings erst noch einige Voraus­set­zungen dafür schaffen, um sich als autonome und legitime Inter­es­sen­ver­tretung etablieren zu können. 

Ein ostdeutscher Stamm ohne Land

Als in den westlichen Besat­zungs­zonen drei Jahre nach dem Kriegsende das Koali­ti­ons­verbot der Alliierten allmählich gelockert wurde und sich Landes­flücht­lings­aus­schüsse bilden konnten, fanden sich auch lands­mann­schaft­liche Gruppie­rungen zusammen: Schon Ende Juli 1948 erhielt der Bund der Danziger (BdDA) seitens der Militär­re­gierung die Geneh­migung, seine Arbeit aufzu­nehmen; und Anfang Oktober desselben Jahres gründete sich in Hamburg die Lands­mann­schaft Ostpreußen (LO).

Am 6. April 1949 beschlossen auch die Vertreter fast aller westpreu­ßi­scher Heimat­kreise die Bildung einer eigenen Lands­mann­schaft. Nun »reihen sich« – wie es die Zeitung Der Westpreuße in ihrer Start­ausgabe, dem Juni-Heft, formu­lierte – »die Westpreußen einschl. der Bromberger in die Front der anderen ostdeut­schen Lands­mann­schaften ein und werden nun auch gegenüber der Öffent­lichkeit, der Deutschen Bundes­re­gierung und andern über unser zukünf­tiges Schicksal entschei­denden Mächten ihren eigenen Sprecher haben« (S. 2).

So zwangs­läufig auch die Flücht­linge und Vertrie­benen vom Land an der unteren Weichsel einer Vertretung oder einer Hilfs­ge­mein­schaft bedurften, die sich für die sozialen Belange einsetzen und ihre Entschä­di­gungs­an­sprüche anmel­deten, so fragwürdig war zu dieser Zeit doch auch, ob diese Funktion tatsächlich der Sprecher einer »Lands­mann­schaft« übernehmen sollte, denn dieser Begriff traf die Verhält­nisse in der Region doch allen­falls metapho­risch. Der Verband bestand zum einen aus fünf Heimat­kreisen, die seit 1920 dem Regie­rungs­bezirk Marien­werder – sowie übergreifend der Provinz Ostpreußen – angehörten. Dass dieser Regie­rungs­bezirk vor allem wohl aus Gründen eines politisch plaka­tiven wie melan­cho­li­schen Erinnerns ab dem 1. Juli 1922 als »Reg.-Bez. Westpreußen« bezeichnet wurde, hatte das frühere Landes­be­wusstsein der Bevöl­kerung freilich kaum wachzu­halten vermocht: Offenbar hatten sich die früheren Einwohner 1948 bereits der LO angeschlossen – und mussten nun 1949 erst einmal quasi umgemeldet werden. Im Umkreis der soeben zitierten Ausfüh­rungen berichtet Der Westpreuße, dass »dieje­nigen westpreu­ßi­schen Heimakt­kreise, die zunächst im Rahmen der Lands­mann­schaft Ostpreußen arbei­teten und jetzt von der Lands­mann­schaft Westpreußen übernommen sind, […] ihre Obmänner selbst­ver­ständlich beibe­halten« dürfen.

Zum anderen standen neben dieser relativ kleinen Gruppe von Kreisen, die 1945 noch zum Reich gehört hatten, einer explizit »westpreu­ßi­schen« Lands­mann­schaft nur noch Kreise zur Verfügung, die bereits 1919 – als sogenannter Korridor – zu Polen gekommen waren. Die Menschen aus den beiden anderen, bei der damaligen »Vierteilung« der Provinz entstan­denen Gebieten (Abb. 1) waren als Mitglieder nicht mehr zu gewinnen: Die westlichen Kreise Schlochau, Flatow und Deutsch Krone gehörten seit 1938 zu Pommern, waren beim Kriegs­beginn nicht zum Reichsgau Danzig-Westpreußen geschlagen worden und blieben – und bleiben bis heute – fest in die Lands­mann­schaft Pommern einge­bunden. Des Weiteren beriefen sich die Danziger auf ihre histo­rische und als Bürger der Freien Stadt sogar völker­recht­liche Unabhän­gigkeit und wahrten penibel ihre Eigen­stän­digkeit. Allen Bemühungen, die, wenn auch nur fragmen­ta­rische, Provinz und ihre alte Haupt­stadt durch eine Fusion der Verbände wenigstens in der Erinne­rungs­kultur wieder zusam­men­zu­bringen, war dauerhaft kein Erfolg beschieden. 

Der dunkle Schatten des Reichsgaus

Selbst die Bewohner des Korridor-Gebiets reprä­sen­tierten nicht ausnahmslos den »Stamm« der Westpreußen, denn nun kamen auch noch »die Bromberger« hinzu, die – beispiels­weise in der eigenen Rubrik Bromberger Rundschau, die ebenfalls in der № 1 der Zeitung Der Westpreuße zu entdecken ist (S. 6) – betonten, dass sie »eine besondere Tradition, zumal auf kultu­rellem Gebiete, für uns und unsere Kinder zu pflegen« hätten, dann aber einsichtsvoll erklärten, dass sie sich »als dienendes Glied unserer weiteren Heimat« fühlten und sich »einzu­fügen« hätten »in die große Gemein­schaft aller Menschen, die einmal in jenem herrlichen Lande leben durften«.

Die Integration der Bromberger weist – ebenso wie das Ausklammern der »Pommern« und der Danziger – ein weiteres Mal darauf hin, dass die neuge­bildete Lands­mann­schaft sich keineswegs an der (1919 unter­ge­gan­genen) Provinz »Westpreußen« orien­tierte, sondern sich bemühte, die Flücht­linge und Vertrie­benen aus dem Gebiet des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen »Reichsgaus Danzig-Westpreußen« zu vertreten (Abb. 2). Aus der Situation der Nachkriegszeit heraus betrachtet, war diese Anbindung wohl unaus­weichlich. Zugleich ergab sich daraus aber ein gravie­render Mangel, weil der Reichsgau, der aus der propa­gan­dis­tisch grundierten deutschen Perspektive als längst überfällige »Befreiung« urdeut­schen Landes gefeiert worden war, nüchtern betrachtet, weitest­gehend aus einem Terri­torium bestand, das in einem von Beginn an völker­rechts­wid­rigen Krieg erbeutet und annek­tiert worden war. 

Auch dieses Legiti­mi­täts­de­fizit hat die Entfal­tungs­mög­lich­keiten der Lands­mann­schaft Westpreußen zunächst spürbar gehemmt, denn deren Bezugs­region war weitest­gehend von der Deutsch­land­karte verschwunden. Die massiven Forde­rungen der Vertrie­be­nen­or­ga­ni­sa­tionen nach einer Rückkehr in die angestammten deutschen Siedlungs­ge­biete liefen somit ins Leere. Jede Tafel, die das Kuratorium Unteil­bares Deutschland seit Mitte der 1950er Jahre an den Ortsaus­gängen aller westdeut­scher Gemeinden hatte aufstellen lassen, verdeut­lichte unmiss­ver­ständlich, dass innerhalb Ostdeutsch­lands dort, wo das Land an der unteren Weichsel lag, weiterhin die Lücke des »Polni­schen Korridors« klaffte (Abb. 3).

Vergleichbare Schwie­rig­keiten ergaben sich auch bei der Übernahme von Paten­schaften für Kreise in den Ostge­bieten. Grund­sätzlich wurden solche Möglich­keiten, durch entspre­chende Verpflich­tungs­er­klä­rungen die Integration der Ostdeut­schen zu fördern, in der Breite derart exzessiv genutzt, dass sich der Verband der Lands­mann­schaften und die Bundes­ver­ei­nigung der kommu­nalen Spitzen­ver­bände veran­lasst sahen, am 6. Juli 1953 umfang­reiche Richt­linien »für die Übernahme von Paten­schaften über ostdeutsche Gemeinden und Gemein­de­ver­bände« festzu­legen, in denen das Verfahren, die Auswahl­prin­zipien und die inhalt­lichen Dimen­sionen der Paten­schaften detail­liert geregelt wurden.

Diese Euphorie betraf aber in keiner Form die Kreise im Korridor. Hier herrschte vielmehr eine erheb­liche Unsicherheit, wie solch eine Verbindung zu beurteilen sei. So hatte beispiels­weise der Nieder­säch­sische Landkreistag entspre­chende Fragen von einzelnen Kreisen dem Deutschen Landkreistag vorgelegt, der sich daraufhin seiner­seits mit dem Bundes­mi­nis­terium für gesamt­deutsche Fragen in Verbindung gesetzt hatte und nun – im Rundschreiben 31/54 vom 29. April 1954 – unter dem Betreff »Übernahme von Paten­schaften für ostdeutsche Städte und Landkreise, die jenseits der Reichs­grenzen von 1937 liegen«, die Stellung­nahme des Ministers vom 24. März referierte. Diese hebt an einem konkreten Beispiel die Gefahr hervor, dass solch eine Paten­schaft »unter Umständen Missdeu­tungen ausge­setzt sein [könnte], insofern, als es sich dabei um eine Stadt handelt, die ausserhalb [!] der Grenzen von 1937 liegt«. Unter dieser Voraus­setzung gelangt das Minis­terium zu folgender Einschätzung:

Ohne der Entschliessung [!] der Stadt­ver­waltung vorgreifen zu wollen, würde ich doch, wenn Sie den Stand­punkt des Bundes­mi­nis­te­riums für gesamt­deutsche Fragen erfragen, anraten, die Übernahme der Paten­schaft […] im gegen­wär­tigen Zeitpunkt besser nicht zu erklären.

Im Anschluss an diesen Ratschlag kommt der Deutsche Landkreistag seiner­seits zu folgendem Schluss:

Die Bundes­ver­ei­nigung der kommu­nalen Spitzen­ver­bände hält diese Stellung­nahme für zutreffend und ist der Meinung, dass die Beurteilung solcher hochpo­li­ti­scher Fragen den zustän­digen Bundes­stellen überlassen bleiben sollte. Sie hat über diese Auffassung den Verband der Lands­mann­schaften unterrichtet.

Ein reiches Erbe

Faktisch bezog sich die Lands­mann­schaft somit auf ein Terri­torium, das sich – wie insbe­sondere auch die Hinzu­nahme der Kreise Rippin und Leipe zeigt (Abb. 2) – einer übergrei­fenden Raumplanung der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Okkupanten verdankte. Angesichts dieses durchaus schwie­rigen Zusam­men­hangs lag es natürlich nahe, den Verband nach der früheren Bezeichnung des Landes, derje­nigen der ehema­ligen preußi­schen Provinz, zu benennen. Dadurch konnte nicht nur die proble­ma­tische Situation des Jahres 1945 gegenüber dem Zustand des Jahres 1919/20 deutlich zurück­treten, sondern zugleich rief der Name »Westpreußen« eine Fülle positiver Assozia­tionen hervor.

Als sich Westpreußen im Jahre 1878 aus der übergrei­fenden Einheit »Preußen« loslöste und sich zu einer eigen­stän­digen Provinz wandelte, wurde diese Zeit gleicher­maßen als Emanzi­pation wie als Aufbruch empfunden, denn sie war von der Dynamik der Moderne geprägt, die im Kaiser­reich durch technisch-wissenschaftliche Innova­tionen erzeugt wurde und in allen Lebens­be­reichen ein Anwachsen der Prospe­rität versprach. Zudem speisten sich die Energien des Fortschritts aus gesell­schaft­lichen Prozessen, die von einer Erwei­terung und Ausdehnung parti­zi­pa­tiver Rechte begünstigt wurden und eine rasche Zunahme zivil­ge­sell­schaft­lichen Engage­ments auslösten.

Der zielge­richtet vorbe­reitete und in die Tat umgesetzte Aufbruch zur Entfaltung eines kohärenten politi­schen, sozio­öko­no­mi­schen und ‑kultu­rellen Gebildes verband sich überdies mit einer starken Orien­tierung an der Landnahme und Herrschaft des Deutschen Ordens und bot mithin den Bürgern der Provinz eine taugliche histo­rische Folie für das eigene politische Handeln und kultu­relle Selbst­ver­ständnis: Das mittel­al­ter­liche Inein­an­der­wirken von Religion, Rittertum und militä­ri­scher Macht erschien als ein Ideal, das bei der Identi­täts­stiftung der Gegenwart einen zentralen Flucht­punkt zu bilden vermochte.

Dieses Bild einer geschichts­be­wussten wie modernen, in der Industrie und im Handel wie in der zunehmend techni­sierten Landwirt­schaft gleicher­maßen höchst erfolg­reichen Provinz, die der endlich erreichten Eigen­stän­digkeit und neu gewon­nenen Bedeutung in ihrer Haupt­stadt Danzig durch machtvoll-repräsentative Bauwerke Ausdruck verlieh (Abb. 4), war im histo­ri­schen Bewusstsein der Gesell­schaft noch durchaus präsent und ließ sich jetzt bruchlos reakti­vieren, so dass die Zeit der Weimarer Republik und des anschlie­ßenden »Tausend­jäh­rigen Reichs« nahezu ausge­blendet erschien. 

Im Kaiser­reich hatte der Rückbezug auf die Zeit des Deutschen Ordens, der zu einem nicht geringen Teil die eigenen Herrschafts­an­sprüche der Hohen­zollern legiti­mieren sollte, zugleich dazu geführt, dass die geradezu stürmische Entwicklung der Provinz Hand in Hand mit einer natio­nalen, wenn nicht natio­na­lis­ti­schen Grund­haltung ging; denn die Inter­pre­tation des Ordens als eines Bollwerks gegen das »anbran­dende Polentum« bot den Nährboden für die Politi­sierung der Massen und verleitete insbe­sondere in Westpreußen dazu, das »Deutschtum« einseitig zu betonen und derart einen fortschreitend konflik­tuösen Ausschluss der polni­schen und kaschu­bi­schen Minderheit zu betreiben.

Dieser zunehmend chauvi­nis­tische Diskurs des Kaiser­reichs wurde auch 1949 noch keineswegs als Hypothek gesehen, sondern dezidiert dem »Erbe« zugerechnet; denn die antipol­ni­schen ­Äußerungen, die nach 1919 nochmals erheb­liche Eskala­ti­ons­stufen erreicht hatten, galten weiterhin als adäquate Reaktionen auf das schreiende Unrecht der »Vierteilung«. So wurden beispiels­weise die Schriften von Hans Kyser – wie die aus Rundfunk­vor­trägen entstandene Publi­kation zum Lebens­kampf der Ostmark (1934) – weiterhin rezipiert; und Erich Wernicke, um aus einer Vielzahl zumindest einen weiteren Namen zu nennen, der als Oberstu­di­enrat in Marien­werder wirkte, steuerte ebenfalls eine Reihe vergleich­barer Texte bei. Als Probe dieser Sicht­weise – und des angeschla­genen Tons – seien zumindest die letzten beiden von insgesamt acht Defini­tionen des Landes an der unteren Weichsel zitiert, die er im Jahre 1927 veröffentlichte: 

Trotz des glänzenden, erfolg­reichen Abstim­mungs­kampfes im Jahre 1920 gegen den raubgie­rigen unersätt­lichen Erbfeind der Ostmark nur mühsam behauptet und losgelöst von dem Weichsel­strom, der Lebensader des Landes.

Von scheel­süch­tigem Uebermut slavi­scher Empor­kömm­linge, deren gierige Hände sich in den Boden hinter den schüt­zenden Weich­sel­deich einkrallten und Stücke heraus­rissen, dauernd bedroht.

Das ist das deutsche Westpreußen

Versailles 2.0

Die polemische, der »blutenden Wunde« Westpreußen gewidmete Literatur der 1920er Jahre galt nach dem Zweiten Weltkrieg aber keineswegs nur als histo­ri­sches Zeugnis einer leidvollen Zeit, sondern wurde – wenn freilich auch mit gewissen, von den Zeitum­ständen gebotenen Dämpfern versehen – selbst­be­wusst fortge­setzt (Abb. 5A/B). Bezeich­nen­der­weise arbeitete der soeben zitierte Erich Wernicke bis zu seinem Tod im Jahre 1953 am Westpreußen, dem damaligen »Mittei­lungs­blatt der Lands­mann­schaft«, mit und war ein angese­hener, von der Redaktion hochge­schätzter Ratgeber.

Diese Konti­nuität resul­tierte aller­dings weniger aus einem Mangel an selbst­kri­ti­scher Reflexion, sondern aus einer bewussten politi­schen Zielsetzung: Um den »dunklen Schatten«, den die Zeit des Reichsgaus Danzig-Westpreußen auf die Lands­mann­schaft warf, zu bannen, bot es sich geradezu zwingend an, nachdrücklich eine Revision des Vertrags von Versailles zu fordern – so aussichtslos dieser Ansatz völker­rechtlich auch immer sein mochte. Diese Anstren­gungen setzen in den Westpreußen-Beiträgen frühzeitig ein und entwi­ckelten die Gedan­ken­figur, dass das damalige schwere Unrecht, d. h. die Weigerung, den Westpreußen (mit Ausnahme des Abstim­mungs­ge­bietes Marien­werder) das damals von den Alliierten selbst und mittler­weile auch von der UNO vertretene Prinzip des Selbst­be­stim­mungs­rechts zuzuge­stehen, nun endlich gesühnt werden müsse (Abb. 6A/B). Das Bemühen um eine Wieder­auf­nahme des Verfahrens – und mithin um die »Wieder­ver­ei­nigung« Westpreußens – schei­terten jetzt zwar daran, dass das kommu­nis­tische Polen als Unrechts­staat entspre­chende faire Verhand­lungen verwei­gerte. Damit sei diese Frage aber weiterhin offen und könne endgültig erst durch eine von allen Völkern demokra­tisch legiti­mierte europäische Friedens­ordnung geklärt werden.

Obwohl diese Argumen­tation der recht­lichen Position der Bundes­re­gierung diametral entge­gen­stand, konnte sie gänzlich unbeschadet öffentlich vertreten werden, weil sie sich passgenau in den überge­ord­neten Rahmen des Ost-West-Konflikts einlesen ließ und sich quasi im Windschatten der allge­meinen antikom­mu­nis­ti­schen Agitation entfalten konnte. Wie bruchlos diese Strategie von den Thesen des BdV insgesamt mitge­deckt wurde, zeigt eine Ausgabe der Charta der deutschen Heimat­ver­trie­benen aus dem Jahre 1960. Hier ist in Bezug auf die ursprüng­liche Erklärung eine Dekla­ration vom 6. August dieses Jahres beigefügt, in der die Verant­wortung für die Spaltung Deutsch­lands sowie Europas ausschließlich dem »Terror­regime« des Ostens zugewiesen wird: 

Die Not unserer Tage wird besonders klar an der noch immer nicht überwun­denen Zerreißung Deutsch­lands, an der Unfreiheit unserer Schwestern und Brüder jenseits des Eisernen Vorhangs und an der Tatsache, daß noch immer mehr als hundert Millionen Menschen anderen Volkstums ostwärts von Deutsch­lands Grenzen wehrlos einem Terror­regime ausge­liefert sind.

Wie weit sich die Flücht­linge und Vertrie­benen sogar als »Kombat­tanten« der westlichen Welt sahen, gibt das Titel­blatt dieser »Charta«-Ausgabe zu erkennen (Abb. 7). Neben der bislang einzigen Version, der deutschen, wird der Text nun auch z. B. in Englisch, Franzö­sisch und Italie­nisch, aber auch in Islän­disch, Griechisch oder Türkisch veröf­fent­licht – und diese Auswahl berück­sichtigt exakt alle Sprachen der NATO-Gemeinschaft, ihrer Gründungs­mit­glieder (1949), Griechen­lands und der Türkei (1952) sowie Deutsch­lands, das seit 1955 in den Verbund aufge­nommen worden war. Deshalb erscheint hier auch Portu­gie­sisch, nicht aber Spanisch, denn Spanien ist dem Verbund erst 1982 beigetreten.


Die hier vorge­tra­genen Beobach­tungen und Inter­pre­ta­tionen können und wollen nicht mehr als eine grobe Skizze der Frühge­schichte liefern, in der sich die Verei­nigung der Westpreußen im Nachkriegs­deutschland formiert hat und schon bald als mitglie­der­starke kämpfe­rische Lands­mann­schaft auftreten konnte. Die dabei deutlich gewor­denen internen Wider­sprüch­lich­keiten, takti­schen Erwägungen und verschie­denen Inter­es­sen­lagen bedürfen freilich noch erheblich weiter­rei­chender Archiv­ar­beiten und diffe­ren­zierter Studien. Zumindest aber dürften diese Unter­su­chungen plausibel gemacht haben, dass die Konsti­tution einer Lands­mann­schaft Westpreußen sich 1948/49 nicht natur­wüchsig »von selbst« verstand, sondern dass es einiger Initia­tiven und Abwägungen bedurfte, bis sich auch dieser Stamm »einschl. der Bromberger in die Front der anderen ostdeut­schen Lands­mann­schaften« einzu­reihen vermochte.