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Mehr als ein »vergessener Komponist«

Eine Biographie stellt den Cellisten und Komponisten Johann Benjamin Gross vor

Folckert Lüken-Isberner erweitert mit seinem an Dokumenten reichen Buch das Wissen um den aus Elbing stammenden Musiker erheblich. Gross hatte viele Kontakte nach Berlin, Entfal­tungs­mög­lich­keiten bot ihm aber vor allem das Musik­leben in Nordost­europa bis hin nach St. Petersburg.

Clara Schumann gab er Kompo­si­ti­ons­un­ter­richt, und seine Lebens­daten (1809–1848) sind sehr ähnlich jenen von Robert Schumann (1810–1856) und Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847), mit denen er auch persönlich bekannt war: Fast zwangs­läufig stand der 1809 geborene Cellist und Komponist Johann Benjamin Gross im Schatten dieser Persön­lich­keiten. Dass er aber dennoch keine bloße Randfigur war, sondern während seiner kurzen Laufbahn erheb­liches Ansehen genoss, zeigt eine im PAN-Verlag erschienene Biografie, die ihm Folckert Lüken-Isberner gewidmet hat.

Der Verfasser hat selbst einen inter­es­santen Lebenslauf aufzu­weisen. Er studierte Archi­tektur und Stadt­planung, arbeitete im Büro des promi­nenten Archi­tekten Hans Scharoun und war Wissen­schaft­licher Mitar­beiter an der TU Berlin. »Trotz der eigenen Routinen in histo­ri­schem Arbeiten« beschreibt der Autor seine Veröf­fent­li­chung im Vorwort als »durchaus gewagt«, denn im Bereich der Musik­ge­schichte ist er ein Querein­steiger. Seit 2009 hat Lüken-Isberner sich intensiv mit Johann Benjamin Gross ausein­an­der­ge­setzt und bereits Werke aus dessen Feder in neuen Editionen heraus­ge­geben. Seine Monographie hat unver­kennbar einen wissen­schaft­lichen Anspruch; zugleich macht der Autor aber explizit kenntlich, dass er nicht von einem neutralen Stand­punkt aus spricht, sondern sich als Anwalt des Kompo­nisten versteht und auf dessen Rezeption in der Gegenwart einen förder­lichen Einfluss nehmen will.

Für Musik­freunde, die am deutschen Musik­leben zur Mitte des 19. Jahrhun­derts inter­es­siert sind, ist zumindest die erste Hälfte des Buches mit der biogra­fi­schen Darstellung über Gross gewiss eine kurzweilige Lektüre. Lebens­ver­hält­nisse und Weltan­schau­ungen von Musik­schaf­fenden der damaligen Zeit werden hier exempla­risch verdeut­licht, denn Folckert Lüken-Isberner bietet viele aussa­ge­kräftige Dokumente. Das klein­teilige Inhalts­ver­zeichnis zeigt schon: Hier wurde alles zusam­men­ge­tragen, was greifbar war, und durch intensive Recherchen sind im Hinblick auf Gross viele neue Quellen dazuge­kommen. Attraktiv wird die Biografie auch durch sehr sorgfältige Repro­duk­tionen von Musik­hand­schriften, Briefen und histo­ri­schen Abbil­dungen. Dazu gehört nicht zuletzt ein eindrucks­volles Porträt des Kompo­nisten, eine Litho­grafie, die der Autor auf die Zeit um 1840 datiert: Sie zeigt den Künstler mit stürmi­scher Frisur, dem zeitty­pi­schen Backenbart und einem weniger romantisch-verträumten als vielmehr verschmitzt-herausfordernden Blick.

Johann Benjamin Gross verbrachte seine Kinder­jahre in Elbing: »Mit seiner Familie bewohnte er in der Altstadt das Haus Innerer Mühlendamm 35, nicht weit entfernt von der aus dem 13. Jahrhundert stammenden Stadt­pfarr­kirche St. Nicolai.« Diese Zeit endete jedoch bereits, als Gross 14 Jahre alt war: Vom offenbar ehrgei­zigen Vater gefördert, ging er bereits in diesem Alter zur musika­li­schen Ausbildung nach Berlin. Dort unter­richtete ihn der namhafte Cellist Ferdinand Hansmann. Schon 1824 erhielt Gross dann eine erste Anstellung im Orchester des König­städ­ti­schen Theaters, wo er sich mit dem ebenfalls jungen und hochta­len­tierten Geiger Ferdinand David anfreundet. Daneben trat er bald auch als Solist sowie mit eigenen Kompo­si­tionen in Erscheinung. In der Musik­presse wurden etwa seine Auftritte im Leipziger Gewandhaus 1832 sehr wohlwollend besprochen. Den Kritiker der renom­mierten Allge­meinen musika­li­schen Zeitung beein­druckte »sein voller, reiner Ton« als Cellist. Zudem habe er – was als noch umfas­sen­deres Lob gelten kann – »überhaupt viel innere Musik«.

Der Lebensweg von Johann Benjamin Gross, so wie ihn Folckert Lüken-Isberner rekon­struiert hat, sagt auch etwas über das damalige Musik­leben aus, über die enge Verschränkung von Berlin und Mittel­deutschland mit Osteuropa. Die nächste wichtige Station für den Elbinger Musiker war die Univer­si­täts­stadt Dorpat. Das heutige Tartu in Estland, 2024 eine der drei Kultur­haupt­städte Europas, verfügte bereits damals über ein vergleichs­weise leben­diges kultu­relles Leben. Gross wurde dort 1833, zusammen mit seinem Freund Ferdinand David, Mitglied im angese­henen Privat­quartett des Adligen Carl Gotthard Liphardt. Dieses Ensemble genoss auch überre­gional den Ruf der »hervor­ra­gendsten Quartett­ver­ei­nigung«, bot eine gute Besoldung und spielte nicht nur zu privaten Anlässen des Mäzens, sondern konnte auch regel­mäßige Konzerte für die Öffent­lichkeit geben. Von Dorpat aus unternahm Gross 1834 eine Konzert­reise, die ihn nach Riga führte, wo »man ihm viel Wohlwollen« erwies, und auch nach Reval, wo er seine spätere Ehefrau Catharina kennenlernte.

Zum wichtigsten Lebens­ab­schnitt sei für Gross aber, wie sein Biograph ausführt, seine Zeit in St. Petersburg geworden. Dort konnte er 1838 Solocellist des Kaiser­lichen Orchesters werden, mit Aussicht auf eine auskömm­liche Pension nach zehnjäh­riger Tätigkeit. Belegt ist, dass er zudem Unter­richt gab und als Solist auftrat. Doch Lüken-­Isberner vermerkt auch bedauernd, dass wegen des fehlenden Zugangs zu den Archi­valien in Russland eine genauere Darstellung »noch unerledigt« bleiben musste. Deutlich wird aber das hohe Niveau der Musik­kultur St. Peters­burgs, sowohl was einhei­mische Musiker angeht als auch mit Blick auf durch­rei­sende Virtuosen, für die die Stadt eine wichtige Tournee­station war.

Über seine Peters­burger Jahre schrieb Gross, dass er dort in »gesellig höchst angenehmen Verhält­nissen« leben durfte. Dennoch sah er sich einer »schweren Prüfungszeit unter­worfen«. Gemeint waren damit wohl die Pflichten, die sich aus der Anstellung im Kaiser­lichen Orchester ergaben, und überhaupt das Leben weit weg von Berlin, wohin er beständig Kontakte unter­hielt. Offenbar erhoffte er sich nach Ablauf der zehnjäh­rigen Dienstzeit dann die Möglichkeit zu einer freien, ganz den eigenen Ambitionen verpflich­teten künst­le­ri­schen Tätigkeit. 

Im Jahr 1842 kam Gross noch einmal nach Elbing, um seine Familie zu besuchen und dort ein Konzert zu geben. Danach ist er wohl nicht mehr dort gewesen, was auch zeigen könnte, dass das Musik­leben in diesem Teil Preußens noch weniger entwi­ckelt war. 

Das Jahr 1848, in Mittel­europa geprägt durch zahlreiche revolu­tionäre Erhebungen, brachte in Nordost­europa das Wieder­auf­flammen einer Cholera-Epidemie. Solche Wellen noch unbehan­del­barer Krank­heiten haben im 19. Jahrhundert die durch­schnitt­liche Lebens­er­wartung stark verkürzt. Jenseits der Statistik hieß das, dass viele Menschen mitten aus dem Leben gerissen wurden. »Im schönsten Mannes­alter«, wie es ein Nachruf vermerkte, ereilte dieses Schicksal auch Johann Benjamin Gross, der am 1. September 1848 nach kurzer Krankheit verstarb. In einem weiteren Text dieser Art wurde Gross charak­te­ri­siert als »ein Feind alles falschen und unedlen Flitters in der Kunst wie im Leben«. Hier hat also der Unter­titel des Buches seinen Ursprung, der – auf dem Cover ohne Anfüh­rungs­zeichen nicht gleich als Zitat erkennbar – zunächst etwas kurios wirkt.

Tragisch erscheint der frühe Tod auch deshalb, weil im Jahr 1848 die Verpflich­tungen beim Kaiser­lichen Orchester ausliefen und die Auszahlung der Pension beginnen sollte. Ein Umzug, mögli­cher­weise in eine der deutschen Musik­me­tro­polen Berlin, Leipzig oder München, war bereits in Vorbe­reitung, war aber noch aufge­schoben worden, weil Gross kurz vor seinem Tod eine Berufung als Privat­lehrer an den Kaiser­lichen Hof erhalten hatte. Angesichts dieser zukunfts­träch­tigen Konstel­lation wendet sich Lüken-Isberner zum Schluss seiner biogra­fi­schen Darstellung einer kontra­fak­ti­schen Geschichts­schreibung zu, fragt also nach dem, »was gewesen wäre, wenn …«: Falls Gross länger in St. Petersburg geblieben wäre, hätte man ihn bei den Berufungen an das 1862 gegründete Peters­burger Konser­va­torium kaum übergehen können. Dann, so mutmaßt der ­Autor, wäre er vielleicht Musik­theo­rie­lehrer des jungen Tschai­kowski geworden. Diese Aufgabe kam statt­dessen Nikolai Iwano­witsch Saremba zu, der seiner­seits Schüler von Gross gewesen war.

Im zweiten Teil seines Buches stellt Lüken-­Isberner die verfüg­baren Materialien bereit, die einer weiteren Ausein­an­der­setzung mit Gross zugrunde gelegt werden können. Ein histo­ri­sches, aus zeitge­nös­si­schen Quellen zusam­men­ge­stelltes Werkver­zeichnis umfasst etwas mehr als dreißig Kompo­si­tionen. Dank den einge­henden Recherchen des Autors ist es nun auf den doppelten Umfang angewachsen. Den Schwer­punkt des Œuvres bilden nahelie­gen­der­weise Werke für Cello und Orchester sowie Streichquartette.

Ist – oder war – Gross nun ein »verges­sener Komponist«? Lüken-Isberner bemüht sich um eine Relati­vierung dieser Zuschreibung; er dokumen­tiert sowohl die recht umfang­reichen zeitge­nös­si­schen Bespre­chungen zu Konzerten und Kompo­si­tionen als auch Belege der neueren Rezeptions- und Auffüh­rungs­ge­schichte. An »manchen Initia­tiven zur neuen Wahrnehmung« des Kompo­nisten war der ­Autor selbst beteiligt. Besonders erfolg­reich sind diese Bemühungen anscheinend bei dem inzwi­schen häufig aufge­führten Streich­quartett f‑Moll op. 37.

Für die inter­es­sierte Lektüre bietet sich diese Materi­al­sammlung weniger an. Gelegentlich verliert sich der Autor hier zudem in Details und apolo­ge­tische Bemühungen, wenn etwa Internet-Rezensionen und Meinungs­äu­ße­rungen von Musikern ausführlich zitiert werden. Deutlich wird aber – und das ist eigentlich nicht überra­schend: Besonders ausge­prägt ist das Interesse an Johann Benjamin Gross gegen­wärtig in seiner Herkunfts­region. In Elbing, seiner Geburts­stadt, finden nun wieder Auffüh­rungen seiner Werke statt, und mehrfach standen seine Kompo­si­tionen auch schon beim etablierten Goldberg-Festival in Danzig auf dem Programm.

Alexander Klein­schrodt