Simone Kucher: Die lichten Sommer
[München]: Kjona, 2024
Mit dem Titel Die lichten Sommer, einer hellen, pastellig-zarten Covergestaltung und einem cremeweißen Einband scheint das Debüt von Simone Kucher ein unbeschwertes Lesevergnügen, eine Sommerlektüre anzubieten. Die Geschichte der Familie Svoboda, auf zwei Zeitebenen ebenso sprachlich präzise wie inhaltlich sensibel erzählt, ist jedoch alles andere als leicht und unbeschwert – die Erlebnisse und Erfahrungen von Krieg, Vertreibung und Neuanfang prägen mehrere Generationen nachhaltig.
Ein Dorf in Süddeutschland in den 1960er Jahren: Die siebzehnjährige Elisabeth, genannt Liz, arbeitet in der Batteriefabrik, hilft zudem in der elterlichen Gastwirtschaft aus. Für ihren Traum, im Sekretariat ihrer Firma eine Stelle anzunehmen, endlich »saubere« Arbeit zu erledigen, haben die Eltern kein Verständnis, sie erhoffen sich für die Tochter lediglich die Versorgung durch einen Ehemann.
Dann war es eben so, dann sollte es nicht anders sein. Und an den Regalen mit den anderen Mädchen, bei den leichten Aushilfsarbeiten war sie ja auch richtig, oder nicht? Bei diesen kopf-knopf-kopflosen Handgriffen. Sie unterdrückte ein Lachen – knopflos!
Dabei gab es auch bei Ladislaus und Nevenka, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Vertriebene aus der ehemaligen Tschechoslowakei in den Ort kamen, Aufstiegshoffnungen. Zunächst in einer eilig errichteten Barackensiedlung untergebracht, verdienen die beiden als Hilfsarbeiter auf dem Bau und in der Fabrik ihren Lebensunterhalt. Mit der Übernahme eines heruntergekommenen Gasthofs fühlt der Vater sich angekommen, als nach jahrelanger, mühseliger Renovierung die Einheimischen nun zu ihm kommen, und die Anschaffung des ersten Fernsehers im Dorf weist ihn als fortschrittlich aus. Doch mit seinem kauzigen Wesen bleibt Ladislaus ein Außenseiter, beginnt zudem zu trinken, und nie reicht das Geld.
Nevenka, seiner Frau, untersagt er, in die Fabrik zu gehen, damit sie die häuslichen Pflichten nicht vernachlässigt und immer ein warmes Essen auf dem Tisch steht. Manchmal denkt sie noch an die alte Heimat, an die mährischen Sommer voller Farben und Früchte und an die endlosen Winter, an eine – in der damaligen Wahrnehmung des Mädchens – traumhafte Kindheit. Der Vater Adam betreibt eine kleine Perlmuttwerkstatt, seine Manschettenknöpfe und Brieföffner verschickt er bis nach Paris. Als nach der Besetzung durch die Nationalsozialisten die Bevölkerung aufgefordert wird, sich zum Deutschtum zu bekennen, unterschreibt Adam, obwohl er damit heftigen Streit mit seiner Frau Olina auslöst, die eine solche Unterschrift vehement ablehnt.
Die kleine Nevenka versteht nicht, warum die Eltern so erbittert streiten, sie träumt sich aus der Dorfidylle in die Welt der phantastischen Erzählungen, der Märchen und Mythen der Region (es ist die gleiche Welt, aus der die magischen Figuren und Sprachbilder des Otfried Preußler stammen), während die ältere Schwester Rosa ihren Kriegsbeitrag in einer Schuhfabrik leistet, in der Stiefel für die deutsche Wehrmacht produziert werden. In Nevenkas Schulklasse taucht ein geheimnisvolles Mädchen auf, Kind einer der zwangsumgesiedelten tschechischen Familien, die in abgelegenen mährisch-deutschen Dörfern zur Zwangsarbeit herangezogen werden; Nevenka hört erstmals von den Schreckenstaten der Nationalsozialisten in Prag, in Brünn und anderswo im Land, lernt Begriffe wie Ghetto und Theresienstadt kennen und erfährt von Partisanen im Dorf, ohne zu verstehen, was mit diesen Nachrichten verbunden ist.
Der Krieg, lange Zeit weit weg, kommt im Frühjahr 1945 zunächst in Form von Gerüchten, Unruhe und Ängsten in das Dorf, bevor Anfang Mai mit dem Kriegsende sich alles ändert. Wer deutsch ist oder mit den Deutschen paktiert hat – Adam hat nicht nur für die Deutschen votiert, sondern in seiner Werkstatt auch Aufträge des Reichsprotektors übernommen –, wird von den Tschechen auf grausame Weise gerichtet: Die Männer werden interniert, Frauen und Kinder vertrieben. Nevenka entkommt in letzter Minute einer drohenden Vergewaltigung, die ältere Schwester Rosa hingegen erleidet die entfesselte Gewalt des Nachkriegschaos ungeschützt, was sie ein Leben lang begleiten wird.
Zwanzig Jahre später erfährt Nevenkas Tochter Liz subtilere Formen von Ausgrenzung und Abwertung in der neuen Heimat – eine wahrhaft »kalte« Heimat, mit dem von Andreas Kossert geprägten Begriff treffend beschrieben. Die junge Frau geht nach dem elterlichen Verbot, eine Ausbildung zu machen, frustriert eine frühe Ehe mit einem Bauern- und Gastwirtssohn aus einem Nachbarort ein, ihr Mann Robert lässt ebenso wie seine Eltern das Mädchen aus der Barackensiedlung, das schon lange nicht mehr dort lebt, von Anfang an ihre Vorbehalte und Vorurteile spüren.
Rasch erkennt Liz, dass ihre unklaren Vorstellungen von Ehe und Gemeinsamkeit der Realität nicht standhalten: Der sparsame, fleißige Robert erwirbt einen Bauplatz, errichtet mit viel Eigenleistung ein Haus, das über Jahre unvollendet bleibt, verdingt sich nebenbei als Vertreter für Bausparverträge. Für Sohn und Tochter hat er keine Zeit, er hält es für selbstverständlich, dass die Mutter sich kümmert, die emotionalen Bedürfnisse seiner jungen Frau interessieren ihn nicht. Zu einem Eklat kommt es, als in der von Roberts Vater an den Bruder vererbten Gaststätte, in der Liz jobbt, ein größerer Geldbetrag verschwindet und sich der Verdacht auf die »von drüben« konzentriert. Robert schließt sich den abwertenden Vorhaltungen an; Liz, die, ohne es zu wissen, nach einer weiteren Schwangerschaft eine Depression entwickelt, schafft es nicht, sich gegen das negative, von Robert gezeichnete Bild zu wehren, kontert ihrem Mann nur gedanklich:
In Liz fängt es an zu pochen: Flüchtlingskind, Diebin, Flüchtlingskind. Früher waren es die Kartoffeln auf dem Acker, heute sind es Geldscheine. Und was kommt als Nächstes?
Nein, ich bin verdammt nochmal kein Flüchtling. Ich bin genauso wie du auf dieser stinkenden Erde hier geboren. In Baracken zwar, aber eindeutig hier.
Wenn schon, dann sind es ihre Eltern: Flüchtlinge! Aber wenn wir schon dabei sind: Wovor sind sie denn geflüchtet, so viel weiß Liz immerhin, dass sie nicht freiwillig gegangen sind, dass man sie dort in der Tschechoslowakei einfach nicht mehr wollte. So war das.
Vom eigenen Vater, der ihr die Einheirat in die einheimische Familie nicht verzeiht, wird Liz beharrlich ignoriert, die Mutter zieht sich zunehmend in ihre eigene Welt voller wehmütiger Erinnerungen an die alte Heimat zurück, die wenigen Geschichten, die sie aus der Vergangenheit preisgibt, bleiben bruchstückhaft und für die Tochter unverständlich. Die Familie, die Vergangenheit, sogar die Jahreszeiten, das gesamte Leben überfordern Liz, die Gewalt, die sie selber erfahren hat, gibt sie an ihre Kinder weiter. Ihre Hoffnungen auf eine große Wende, ihre Träume, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen und so ihr Lebensglück zu finden, haben sich in einen Scherbenhaufen verwandelt, der sich nicht mehr zu einem Ganzen zusammenfügen lässt.
Mutter Nevenka, Tochter Elisabeth, die gesamte Familie Svoboda, sie stehen beispielhaft für die Generationen, die, geprägt durch das Leid von Krieg und Vertreibung, sich lebenslang um eine Befreiung von den erlittenen Traumata bemühen, doch die dunklen Schatten der Vergangenheit nicht abstreifen können. Auch und gerade wenn Heimatlosigkeit und Entwurzelung nie thematisiert werden, wenn der Kampf um Anerkennung und Teilhabe alles überlagert, wirken Schrecken und Verluste fort, bestimmen das Denken, Fühlen und Miteinander. Simone Kucher verknüpft in ihrem sehr lesenswerten Roman in sensibler Weise und poetischer Sprache die dramatischen Erlebnisse der Mutter mosaikartig mit den Träumen und Wünschen der nächsten Generation, fügt in feiner Balance die finsteren Zeiten und die »lichten Sommer« nebeneinander und beschreibt damit viel mehr als nur die Geschichte der Familie Svoboda. Das Buch endet mit der Nachricht von Nevenkas Tod – für die Tochter das Ende einer Epoche und die vage Hoffnung auf einen Neuanfang.
Der Zug fährt in die Nacht. Der Zug könnte weiterfahren, einfach links abbiegen und über Dresden, Usti Nad Labem bis nach Brno. Von Brno wäre es nur noch eine knappe Stunde mit dem Bus an besonnten, sanften Weinhängen entlang in den Kindheitsort ihrer Mutter.
Annegret Schröder