Die alte Hansestadt Thorn – ein Tourismusmagnet
Die Thorner Stadtverwaltung schätzt, dass Thorn im Jahr 2023 etwa 2 bis 2,25 Mio. Touristen aus Polen und dem Ausland angezogen hat. Dies ist eine deutliche Steigerung im Vergleich zu den circa. 2 Mio. und den etwa 1,5 Mio. Gästen, die in den Jahren 2022 bzw. 2021 gekommen sind. Einen angemessenen Maßstab aber bietet erst das Rekordjahr 2019, in dem – vor Ausbruch der Corona-Pandemie – bereits über 3 Mio. Touristen erfasst worden waren.
Thorn zählte damals noch 200.000 Bewohner; heute schrumpft die Einwohnerzahl allerdings, da viele Bürger, die damit einem in den größeren polnischen Städten aktuellen Trend folgen, ins Umland abwandern. Im Zeitraum von Oktober bis Juli sollte man aber berücksichtigen, dass zusätzlich über 31.000 Studierende der Universität und anderer Hochschulen die Stadt bevölkern. Da in Thorn eine der führenden Universitäten des Landes beheimatet ist, trägt sie wesentlich dazu bei, dass Wissenschaft und Kultur sowie auch der Sport im Leben der Stadt wichtige Rollen übernommen haben. Neueste Berichte belegen, dass die Stadt in rasch zunehmendem Maße als Veranstaltungsort für Kongresse, Festivals, herausragende künstlerische Events und Sportwettkämpfe, aber auch für Treffen im Familien- und Freundeskreis gewählt wird.
Die meisten ausländischen Touristen reisen aus Deutschland, Großbritannien und Spanien an, aber seit diesem Jahr sind signifikante Steigerungen in Bezug auf Asien (China, Japan, Südkorea, Taiwan, Indien), auf Italien und die USA zu beobachten. Neuerdings gehört die Hansestadt Thorn auch in das Programm, das Reisende aus Australien während ihrer Europa-Tour absolvieren. Der Eintrag der Altstadt in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes (1997) übt auf internationale Besucher offenbar eine große Anziehungskraft aus, wobei die Backsteingotik und die Geschichte des Mittelalters wichtige Faktoren bilden. Freilich ist Thorn als Reiseziel auch bei inländischen Touristen sehr beliebt, die aus den benachbarten Woiwodschaften und aus Warschau, sehr oft aber auch aus noch weiter entfernten Regionen kommen und sich aufgrund der zentralen Lage der Stadt gerne zu einem Wochenendtrip nach Thorn aufmachen.
Der Fremdenverkehr hat sich somit zu einem entscheidenden wirtschaftlichen Faktor entwickelt. Thorner Hotels und andere Beherbergungsbetriebe verfügen über etwa 10.000 Betten, und deren Zahl nimmt noch ständig zu. An diesem Markt partizipiert zudem eine Fülle von Restaurants, die eine kaum übersehbare Auswahl von Gerichten aus allen Küchen der Welt, aber auch regionale Spezialitäten wie Thorner Graue Klöße, Lebkucheneis oder Gewürzbier anbieten. Profitabel ist der Tourismus freilich auch für Cafés und Klubs, für die zahlreichen Geschäfte, die »Kathrinchen« oder Souvenirs verkaufen, oder viele weitere Einzelhändler im Umkreis der Alt- und Neustadt.
Bei einer differenzierten Betrachtung der statistischen Daten zeigt sich, dass die Zahl der Besucher zwischen 2013 und 2019 um respektable 47 % gestiegen ist. Dieser Erfolg ließ bald aber auch eine Kehrseite hervortreten: Seit 2015 wird in Thorn immer drängender von den Problemen des »Overtourism« gesprochen, denn ebenso wie in anderen attraktiven Städten weltweit drängen sich hier im Frühjahr und Sommer zu viele Besucher auf engem Raum.
Die Gefahr, dass die Grenzen der Belastbarkeit überschritten werden könnten, hat die Stadt schon im Jahr 2013 erkannt und daraufhin eine erste Strategie für einen nachhaltigen Tourismus entworfen. Zehn Jahre später, im vergangenen Jahr, ist dieses Konzept novelliert und erweitert worden. Dabei sind drei unterschiedliche Grundansätze entwickelt worden. Zum einen soll die Altstadt entlastet werden, indem »Events« auch in anderen Vierteln einen Ort finden. Ein treffendes Beispiel für solche Bemühungen bietet die 17. Internationale Citroën Car Club Rally (ICCCR), bei der im August 2024 mehr als 1.000 Fahrzeuge – vornehmlich Oldtimer – an der Motoarena Toruń, dem Speedway-Stadion in der Vorstadt Weißhof, zusammenkamen. Zum anderen wird angestrebt, die Folge von Veranstaltungen zu entzerren, indem die von April bis Oktober dauernde Hochsaison zeitlich einesteils auf den März, andernteils auf den November ausgedehnt wird. Zum dritten schließlich richtet sich das Augenmerk darauf, die touristischen Kapazitäten durch Veränderungen der Infrastruktur zu erhöhen. So wurde beispielsweise der Philadelphia-Boulevard, der Kai zwischen der Altstadt und dem rechten Weichselufer, zu einer einladenden grünen Flanier-Meile umgestaltet. Erst recht wird unverwandt das Ziel verfolgt, Thorn in eine reine Fußgängerstadt zu transformieren: Jahr für Jahr werden weitere Straßen der Altstadt für autofrei erklärt.
Die Hauptanziehungskraft auf alle Gäste übt erfahrungsgemäß die spezifische Atmosphäre der Stadt, ihr Genius Loci, aus. Einen ersten Eindruck vermag schon eine Stadtbesichtigung zu vermitteln, sei es zu Fuß oder sei es mit einem elektrischen Wagen. Daran wird sich in der Regel aber noch der vertiefende Besuch anderer Sehenswürdigkeiten anschließen, zu denen zunächst die Zeugnisse der Backsteingotik, die mittelalterlichen Kirchen, die Ruine der Deutschordensburg, die Basteien, die Stadttore und nicht zuletzt – als eines der »Highlights« – das Altstädtische Rathaus gehören. Das Nikolaus-Kopernikus-Haus mit seiner neu konzipierten Ausstellung steht an der Spitze der beliebtesten Museen. Mit 300.000 Besuchern (2022) nimmt es in Polen insgesamt den 13. Rang ein. Des Weiteren stößt auch die Architectura Militaris auf großes Interesse; mit ihr kann man sich seit einigen Jahren in dem populären interaktiven Museum der Thorner Festung auseinandersetzen; und erst recht wenden sich Touristen bei ihren individuellen Rundgängen gerne der Lebkuchen-Tradition der Stadt zu, die in mehreren Museen sowie Werkstätten mit Mitmachangeboten erläutert und vergegenwärtigt wird.
Neben den Bauwerken, Museen oder lokalen Spezialitäten gewinnen kulturelle Veranstaltungen im weitesten Sinne zunehmend an Bedeutung. Dadurch eröffnen sich für Städte mannigfaltige Möglichkeit, ihr Profil zu erweitern und zu schärfen. In Thorn werden diese Chancen äußerst umsichtig und geschickt genutzt. Dies zeigt für den Bereich des Films beispielsweise das Internationale Festival Tofifest, das von vornherein darauf verzichtet hat, mit Cannes oder Berlin zu konkurrieren, sondern sich auf Indie-Filme konzentriert: auf Produktionen, die außerhalb etablierter Strukturen umgesetzt werden und über ein innovatorisches Potenzial verfügen. Unter einer noch spezielleren Perspektive wird die Filmkunst im Festival Camerimage betrachtet. Es ist neben dem Manaki Brothers Film Festival im nordmazedonischen Bitola weltweit eines der ganz wenigen Filmfestivals, das sich der Kameraarbeit widmet. Hauptpreis des Festivals ist übrigens der »Goldene Frosch«, dessen Gestalt an die Skulpturen auf dem von Georg Wolf geschaffenen Flissakenbrunnen auf dem Altstädtischen Marktplatz erinnert. Aufgrund der geradezu exquisiten Thematik dieses internationalen Wettbewerbs wird nun in unmittelbarer Nähe des Jordanki ein weiteres Kulturzentrum, das »Europäische Filmzentrum Camerimage«, errichtet, das mit einer Festivalhalle und der begleitenden Infrastruktur für Filmproduktion und ‑vorführung der Förderung des polnischen Films dienen soll und ein Ort des kulturellen Austauschs mit globaler Reichweite zu werden verspricht.
In vergleichbarer Weise sind Veranstaltungen im Bereich der Musik, des Theaters oder der visuellen Künste ebenfalls daraufhin angelegt, ein internationales Publikum anzusprechen und den Programmen einen originellen, unverwechselbaren Charakter zu verleihen. Das im Mai stattfindende Festival Probaltica beispielsweise möchte mit Konzerten, Ballettaufführungen und Lesungen die Idee der europäischen Einigung und die gemeinsame Kultur der Ostsee-Anrainerstaaten fördern. Die Reihe Nova Music and Architecture veranstaltet Konzerte in historischen wie modernen Bauwerken der Stadt und will damit das Auditive und das Visuelle miteinander in einen Dialog bringen. Aus einer Reihe von weiteren kulturellen Angeboten seien zumindest noch das renommierte Internationale Theaterfestival Kontakt (das in Polen das erste seiner Art war) sowie das Internationale Festival der Puppentheater Spotkania [Treffen] im Baj Pomorski genannt.
Das Gesamtbild von Veranstaltungen, die Thorn von sonst eher vertrauten Angeboten abheben und am »Markt der Aufmerksamkeit« Vorteile verschaffen, rundet einerseits das 2009 initiierte Bella Skyway Festival ab, bei dem – begleitet von einschlägigen Ausstellungen in Wissenschafts- bzw. Kunstzentren – über eine ganze Woche hin mehr als ein Dutzend Installationen von internationalen Lichtkünstlern auf Gebäude, Straßen und Parks projiziert werden und das 2019, im letzten Jahr vor Covid-19, 400.000 Zuschauer anlockte. Andererseits zeigt Copernicon, eines der größten Fantasy-Festivals Polens, das sich an Liebhaber von Spielen, Fantasy, Literatur, Popkultur und Wissenschaft in all ihren Formen wendet, dass in Thorn (schon seit 2010) auch wichtige Segmente der Gegenwarts- und Jugendkultur einen prominenten Ort gefunden haben. So können sich die etwa 4.000 Teilnehmer vom Genius Loci inspirieren lassen und die Altstadt beispielsweise als Cosplay-Figuren durchstreifen; zugleich finden sie dank der engen Kooperation mit der Nikolaus-Kopernikus-Universität ein reichhaltiges Programm mit Veranstaltungen zu kreativer Entfaltung und wissenschaftlicher Reflexion.
Aufgrund seiner vielschichtigen historischen Bedeutung, der weitgehend erhaltenen Bausubstanz und der Auszeichnung als UNESCO-Welterbestätte hat Thorn optimale Voraussetzungen dafür erfüllt, sich zu einer – im heutigen Sprachgebrauch – nachgefragten Touristendestination zu entwickeln. Dazu bedurfte es zudem aber einer ausdifferenzierten Infrastruktur von zeitgemäß konzipierten Museen, Theatern sowie Wissenschafts- und Kultureinrichtungen – wie dem Planetarium, der »Wissensmühle«, dem Kultur- und Kongresszentrum Jordanki oder dem Zentrum für Zeitgenössische Kunst »Zeichen der Zeit« (Znaki Czasu) –, aber auch von einer attraktiven Gastronomie und Hotellerie sowie von Sportanlagen, die hohen Standards genügen. Eine dritte Komponente, die ein kluges Marketing im Blick behalten muss, bildet das hier exemplarisch vorgestellte, die gesamte Saison umspannende und strukturierende Netz von Festivals, die möglichst jedes für sich von großer Originalität sind und in ihrer spezifischen Zusammenstellung der Stadt insgesamt ein Alleinstellungsmerkmal verleihen.
Die dynamischen Wechselbeziehungen zwischen einem historischen Stadtdenkmal, einem breiten Angebot von Einrichtungen, deren Besuch einen hohen Bildungs- und/oder Unterhaltungswert verspricht, und einer dichten Folge von herausragenden Events, die mit speziellen internationalen Szenen verschränkt sind, – dies sind Synergien, die heute global von vielen Tourismus-Zentren angestrebt werden. In Thorn haben solche – seit dem Jahrtausendwechsel systematisch entfalteten – erfolgreichen Bemühungen bereits dazu geführt, dass diese Stadt buchstäblich zu einem Publikumsmagneten geworden ist.
Joanna Stanclik