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»Noch ist Polen nicht verloren«. 1956, 1976, 1981 – ein europäisches Vermächtnis

Von Tilman Asmus Fischer

Die Aufständischen in Posen, Masowien und Danzig erschütterten die Macht der kommunistischen Staatsführung in Polen – und schrieben europäische Geschichte

Vom 1. bis zum 17. Juni zeigte der Deutsche Bundestag anlässlich des 25. Jahres­tages des deutsch-polnischen Nachbar­schafts­ver­trags im Berliner Paul-Löbe-Haus die Ausstellung »Polen und Deutsche – Geschichten eines Dialogs«.  Diese vom Warschauer Museum für die Geschichte Polens erstellte Schau erregte in Deutschland wie in Polen deutliche Kritik; denn offen­sichtlich scheint die Ausstellung sich zulasten histo­ri­scher Tatsachen dem geschichts­po­li­ti­schen Kurs der gegen­wär­tigen polni­schen Regierung anzupassen. Der Beauf­tragte der Bundes­re­gierung für Aussied­ler­fragen und nationale Minder­heiten, Hartmut Koschyk MdB, erhob öffentlich Einwand dagegen, »dass bei der Darstellung des politi­schen Umbruchs in der damaligen Volks­re­publik Polen die Rolle der freien Gewerk­schaft Solidarność in einer mit wissen­schaft­lichen Maßstäben unver­ein­baren Weise in den Hinter­grund gedrängt wird«: So bliebe der Danziger »Solidarność«-Führer Lech Wałęsa ebenso unerwähnt wie der »Runde Tisch« von 1989. In Richtung des Bundes­tags­prä­si­diums bedauerte Koschyk, »dass diese histo­risch und sachlich sehr unaus­ge­wogene Ausstellung ohne Möglichkeit des Wider­spruchs und des Diskurses im Deutschen Bundestag gezeigt« wurde.

Man mag hinzu­fügen: Umso bedau­er­licher, als in diesem Jahr der Arbei­ter­auf­stände von 1956, 1976 und 1981 gedacht wird. Diese histo­ri­schen Daten erinnern an eine über Jahrzehnte in der Volks­re­publik Polen gepflegte Wider­stän­digkeit gegenüber der kommu­nis­ti­schen Gewaltherrschaft.

Der Posener Aufstand 1956 unter­scheidet sich dabei funda­mental vom Volks­auf­stand 1976 mit seinem Schwer­punkt Masowien wie auch von den Protesten des Jahres 1981, die am Anfang des Kriegs­rechts in Polen stehen: Während die Aufstän­di­schen 1956 noch mit einem Macht­ap­parat konfron­tiert waren, der – im Geist der Entsta­li­ni­sierung – verän­derbar erschien, waren die Fronten 1976 und 1981 derart verhärtet, dass der Protest, wenn er nicht scheitern sollte, einen System­wechsel anstreben musste, der letztlich dann mit dem Untergang von UdSSR und Warschauer Pakt auch tatsächlich erreicht wurde. Was die drei Aufstände verbindet ist der – gerade für Ostmit­tel­europa charak­te­ris­tische  – trans­na­tionale Kontext, in dem sie stehen: Vollzogen sich die einzelnen Entwick­lungen auch in klar begrenz­baren regio­nalen Räumen – wie etwa in Danzig mit seinen Werften –, ist mit ihnen doch zugleich das Schicksal des polni­schen Volkes insgesamt sowie dasjenige der Deutschen und Russen – und mithin ganz Europas – verknüpft.

Als im Juni 1956 die Posener Arbeiter in den Streik traten, reagierten sie auf die Erfah­rungen, die sie mit der anhal­tenden Sowje­ti­sierung von Wirtschaft und Gesell­schaft gemacht hatten: Während die Planwirt­schaft von den Betrieben die Erfüllung hoher Normen erwartete, konnte sie dem Volk nicht zugleich auch zufrie­den­stel­lende Lebens­be­din­gungen bieten. Im Rahmen der eskalie­renden Proteste kam es – wie bereits im Juni 1953 in der DDR – zu gewalt­samen Ausein­an­der­set­zungen: Gegen die Entwaffnung von Polizisten und die Besetzung eines Radio­senders setzte die Regierung das Militär ein. 50 Menschen verloren ihr Leben, es kam zu ca. 700 Verhaf­tungen. Mit dem erbrachten Blutzoll erkauften die Aufstän­di­schen letztlich die Wahl von Władisław Gomułka zum General­se­kretär der Polni­schen Verei­nigten Arbei­ter­partei im Oktober und ermög­lichten damit dessen Reformkurs, der zur Rehabi­li­tation politi­scher Gefan­gener, zum Ende der Zwangs­kol­lek­ti­vierung und zu einer gelockerten Zensur führte.

20 Jahre nach Posen war es zunächst wiederum eine neuer­liche Verschärfung der ökono­mi­schen Lage, die regime­kri­tische Bewegungen auslöste: Nachdem die Preise für Zucker um 100 und für Fleisch um 60 Prozent erhöht worden waren, kam es nun im Warschauer Umland – vornehmlich in Ursus und Radom – zu Unruhen, gegen die die Staats­führung mit brutalen Polizei­ein­sätzen vorging. Mehrere hundert Arbeiter wurden verhaftet, einige tausend verloren ihre Arbeit, und fast 80 Menschen wurden angeklagt und zu oft langjäh­rigen Gefäng­nis­strafen verur­teilt. Letztlich war es die gegen die Arbei­ter­schaft gerichtete brutale Gewalt, die dazu führte, dass aus den sozialen Unruhen eine Bürger­rechts­be­wegung erwuchs: Im September 1976 wurde das »Komitee zur Vertei­digung der Arbeiter« gegründet, das gegen die Verletzung von verfas­sungs­mäßig garan­tierten Grund­rechten protes­tierte. Im Folgejahr benannte es sich in »Komitee für gesell­schaft­liche Selbst­ver­tei­digung« um.

Zu den Gründungsmit­gliedern des Komitees zählte unter anderen Jan Józef Lipski. Der Litera­tur­his­to­riker gehörte schon in den Jahren vor dem Ende des Kommu­nismus zu den wenigen Intel­lek­tu­ellen, die sich auch für eine diffe­ren­zierte Ausein­an­der­setzung mit dem deutschen Volk und der gemein­samen deutsch-polnischen Geschichte einsetzte – womit er die Staats­doktrin der polni­schen Kommu­nisten untergrub. So schrieb er bereits 1981 in seinem Essay »Zwei Vater­länder – zwei Patrio­tismen«, das sowohl im polni­schen Unter­grund als auch im exil-polnischen Magazin »Kultura« erschien: »Wir haben uns daran beteiligt, Millionen Menschen ihrer Heimat zu berauben, von denen sich die einen sicherlich schuldig gemacht haben, indem sie Hitler unter­stützten, die anderen, indem sie seine Verbrechen tatenlos geschehen ließen, andere nur dadurch, dass sie sich nicht zum Heroismus eines Kampfes gegen die furchtbare Maschi­nerie aufraffen konnten, und das in ­einer Lage, als ihr Staat Krieg führte. Das uns angetane Böse, auch das größte, ist aber keine Recht­fer­tigung und darf auch keine sein für das Böse, das wir selbst anderen zugefügt haben.« Solche Aussagen wurden nicht nur von deutschen Heimat­ver­trie­benen dankbar aufge­nommen, sondern waren von mindestens ebenso großer Bedeutung für die in ihrer Heimat verblie­benen Deutschen, die in der Volks­re­publik Polen keine Chancen hatten, ihre kultu­relle Identität zu entfalten.

Auch die sich – ausgehend von Danzig – 1980 formie­rende erste freie polnische Gewerk­schaft »Solidarność« war bereit, die natio­na­lis­ti­schen Paradigmen, die die offizielle Politik prägten, zu überwinden. Nicht anders als Jan Jó­zef Lipski gab sie – woran Hartmut Koschyk erinnert hat – schon zur Zeit ihrer Gründung »ein Bekenntnis zur Verbes­serung der Lage der natio­nalen Minder­heiten in Polen« ab und schloss »dabei ausdrücklich auch die deutsche Minderheit mit ein«.

Ende August 1980 hatte der polnische Minis­ter­prä­sident Mieczyslaw Jagielski eine Verein­barung mit den von Lech Wałęsa geführten Arbeitern geschlossen, die der staatlich anerkannten Gründung der »Solidarność« den Weg ebnete – der ersten unabhän­gigen Gewerk­schaft im Ostblock, die schon um die Jahres­wende die Arbei­ter­partei PZPR von ihrer Führungs­rolle innerhalb der organi­sierten Arbei­ter­schaft verdrängte. Ihren Forde­rungen nach gesell­schaft­lichen, wirtschaft­lichen und politi­schen Reformen konnten weder das Zentral­ko­mitee der PZPR noch die Regierung program­ma­tisch entsprechen. Daher propa­gierte die »Solidarność« bei einem Landes­kon­gress in Danzig-Oliva im Steptember 1981 ihr eigenes Reform­pro­gramm, das die Macht­haber wiederum zum Anlass nahmen, der Gewerk­schaft vorzu­werfen, dass sie staat­liche Aufgaben übernehmen wolle.

Bereits im Februar jenes Jahres hatte der Oberbe­fehls­haber der Streit­kräfte, General Wojciech Jaruzelski, das Amt des Minis­ter­prä­si­denten übernommen – im Oktober wurde er zudem erster Sekretär des ZK der PZPR. Unter seiner Führung drohten jetzt Streik­verbote und Sonder­voll­machten für die Regierung per Gesetz. Die »Solidarność« drohte mit landes­weiten Protesten und forderte eine Volks­be­fragung, in der sich die Bürge­rinnen und Bürger dazu äußern sollten, in welchem Maße sie ihrer Regierung überhaupt noch vertrauten. Jaruzelski reagierte auf solche bedroh­lichen Tendenzen am 13. Dezember: Er verhängte das Kriegs­recht, ein »Armeerat der natio­nalen Errettung« übernahm die Führung, und kritische Geister aus Politik und Gesell­schaft wurden verhaftet. Dieser lähmende Zustand sollte bis Juli 1983 andauern – und auch danach blieben die Führung von Partei, Regierung und Streit­kräften in den Händen Jaruzelskis. Selbst wenn der real existie­rende Sozia­lismus es noch einmal geschafft hatte, seine Lage zu konso­li­dieren – mit den Vorgängen in Polen wurde bereits sein Ende einge­läutet. Von Dialog- und Reform­be­mü­hungen Jaruzelskis war der Zusam­men­bruch nicht mehr aufzu­halten und vollzog sich mit zuneh­mender Geschwin­digkeit durch die sowje­tische »Glasnost«- und »Perestrojka«-Politik.

In den langen Jahren des politi­schen Kampfes nahmen viele deutsche Heimat­ver­triebene Anteil an den Entwick­lungen in ihrer Heimat und beglei­teten das Schicksal der jetzt dort lebenden Menschen mit Empathie. Bereits 1977 – ein Jahr nach den Aufständen in Masowien und drei Jahre vor Gründung der »Solidarność« – schrieb Hugo Rasmus in einem Beitrag zum Westpreußen-Jahrbuch hellsichtig: »In der dynami­schen Entwicklung unserer Zeit dürften die mit den starren bürokra­ti­schen Planungs­me­thoden nicht zu bewäl­ti­genden Zwänge der Wirtschaft, das Ringen um die Durch­setzung prakti­zierter Menschen­rechte und die tiefe religiöse Bindung des Volkes die Qualität des herrschenden Kommu­nismus auf längere Sicht verändern, hoffentlich zur Humanität und Freizü­gigkeit hin. Letztlich ergibt sich aus der Geschichte, in deren Verlauf das polnische Volk Epochen der Unfreiheit natio­nal­bewußt überlebt hat, die Gewißheit, daß es auch die Zeit der totalen Herrschaft seiner kommu­nis­ti­schen Partei überstehen wird.«